H. N. Brailsford

JAWAHARLAL NEHRU

UND

,, DIE ENTDECKUNG INDIENS "

Aus der Wochenschrift The New Statesman and Nation", London

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Jawaharlal Nehru ist Vize- Präsi­dent der interimistischen Regierung des freien Indien . In seiner Person hat sein Land nach fast zwei Jahrhunderten der Fremdherr­schaft die Ausübung seines Willens wiedergewonnen. Er schrieb im Gefängnis ein Buch ,,, Die Ent­deckung Indiens ", und das Datum unter dem Vorwort ist einer der letzten Tage des vorigen Jahres. So schnell ist er von der Macht­losigkeit zur Macht aufgestiegen.

An meinen ersten Eindruck von ihm erinnere ich mich lebhaft. Es war vor vielen Jahren, auch damals war er in Haft. Mir wurde gestattet, ihn im Turm einer alten Mogulenfestung zu sehen. Sein rascher Schritt fiel mir auf, sein athletischer Wuchs und die Schnelligkeit seiner Reflexe während unseres Gesprächs. Dies, fühlte ich, war ein Mann, den die Natur zu Tat und Abenteuer geschaffen hatte, obgleich sie ihn auch zum feinsinnigen Redner und zum Künstler begabt hatte, der an der Umwelt seine Freude hat. Es mag besinnliche Gelehrte geben, die sich ziemlich leicht ans Gefängnisleben gewöhnen können, wenn sie Bücher und

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Papier haben. Aber Nehru ist trotz seiner Liebe für Literatur und Wissenschaft seinem Tempera­ment nach mehr ein Kämpfer und ein Volksführer als ein Bücher­gelehrter. Im Gefängnis wandte er sich der Geschichte zu, wie andere vor ihm.

Im Gefängnis konnte Nehru nicht mehr das Panorama von Indiens Bergen und Flüssen sehen, das er liebte. Nur Indiens Monde kamen und gingen über sein Gesichtsfeld, wie er uns an einer schönen und rührenden Stelle seines Buches sagt. Im Garten, in dem er graben durfte, geschah es manchmal, dass sein Spaten Fragmente der Vergangenheit des Landes ans Licht brachte, einmal eine feingeschnitzte Lotosblume, dann wieder das Fundament eines ehemaligen Galgenbaumes. Be­wusst und methodisch ging er ans Werk, sich aus den Schätzen seines Gedächtnisses das Bild der grossen Mutter Indien zu erbauen, um deretwillen er gefangen war. Die Entdeckung Indiens ist keine förmliche Geschichte, obgleich das Buch fünftausend Jahre umfasst. Es ist eher ein Versuch, den heiligen Faden zu entdecken, der