erschrak. Bangen Herzens betrat ich seine Zelle und stellte mich als der neue evangelische Gefängnisseelsorger vor. Er schien mich nicht beachten zu wollen und wandte sich gar nicht nach mir um. Aber statt den Rückzug anzutreten, zog ich mein Neues Testament heraus und las ihm aus dem„goldenen Blatt der Bibel “, Lukas , Kapitel 15, die Ge- schichte vom verlorenen Sohn laut und langsam vor. Darnach fragte ich ihn:„Heinrich, wer meinst Du, daß heute der in dieser Geschichte ge- schilderte verlorene Sohn ist?‘ Statt einer Antwort traf mich ein haß- erfüllter Blick aus den Augen des Verbrechers. ‚Nun“, fuhr ich fort, „so will ich es Dir sagen. Du meinst vielleicht, daß ich als Antwort erwarte, Du seiest der verlorene Sohn. Und ganz gewiß bist Du es vor Gott und Menschen. Aber nicht Du allein. Vor Gott , dem Heiligen und Gerechten , sind alle Menschen verlorene Söhne und Töchter, auch wenn sie keinen Mord auf dem Gewissen haben, also ich ebenso wie Du.— Aber dieser Gott ist wiederum so unglaublich gnädig und barmherzig, daß er selbst einem Mörder wie Dir verzeiht und ihn wieder aufnimmt in sein Vaterhaus und seinen Kindesstand, wenn er, wie im Gleichnis jener verlorene Sohn, an seine Brust schlägt, seine Schuld bereut und bekennt und umkehrt in die weitgeöffneten Arme des himmlischen Vaters, der auch auf Dich wartet, um Dich an seine Brust zu ziehen.“ Und nun erzählte ich ihm von dem Schächer am Kreuz, der auch ein Räuber und Mörder war und noch in letzter Stunde ins Paradies auf- genommen wurde, weil er bereut und Christi Gnade angefleht hatte, und von all’ den Verheißungen der Sünderliebe Gottes, die auch die blutrote Schuld weiß wie Wolle wäscht... Als ich geendet hatte, da geschah etwas ganz Merkwürdiges und Unerwartetes bei dem jungen Verbrecher. Schon während meines Sprechens hatte es in seinem bisher so starren, verstockten Gesicht gewetterleuchtet und gezuckt und nun füllten sich seine Augen mit dicken Tränen, die an seinen Wangen herunterliefen. Zum ersten Male weinte dieser steinharte Mensch. Das Eis seines Her- zens war geschmolzen. Von Stund ’ an veränderte sich sein ganzes Wesen. Er lernte nicht nur die Geschichte vom verlorenen Sohn wortwörtlich auswendig, sondern noch viele Bibelabschnitte und Gesangbuchverse. Tief bereute er seine Untat und suchte und fand immer wieder Trost und Frieden im Wort der Heiligen Schrift. Und als nach Monaten vom Reichsgericht das Urteil bestätigt wurde und ich ihn zur Richtstätte be- gleitete, da hatte er sich mit Gott und Menschen versöhnt und betete noch in der letzten Minute seines Lebens laut die Strophe:


