In mir war das Grauen so angewachsen, daß ich hätte schreien mögen. Es war nach den letzten Worten, als ob eine Saite in meinem Innern gesprungen sei.
Der Professor hatte sich zu Helga herabgebeugt. Er hob das eine Augenlid empor und beleuchtete mit einer Taschenlampe die Pupille. Seine Finger umspannten mit leichtem Druck ihr Handgelenk, und er prüfte den Puls. Dann streichelte er ihren Kopf. Sanft fuhr seine Hand mehrere Male über ihren Scheitel.
,, Schlafen Sie jetzt ein wenig, später lasse ich Sie zu mir holen und mache Sie wieder ganz gesund."
,, Dann darf ich auch wieder essen", sagte Helga und schloß die Augen. Auf Zehenspitzen näherte sich mir der Arzt. Er sah meine Augen auf sich gerichtet und las wohl das Entsetzen darin, denn er strich mir begütigend mehrere Male über die Schulter.
,, Das Krankheitsbild", so begann er ,,, zeigt, daß nicht sämtliche geistige Funktionen gestört sind, und daß die Denktätigkeit noch teilweise klar vorhanden ist, nur das Erinnerungsbild der jüngsten Zeit wird durch eine schwere Gedächtnisschwäche stark verwischt."
,, Und wodurch---?" konnte ich nur hervor
pressen.
,, Die Ursache zu dem Ausbruch dieser Krankheit sehe ich in den unerhörten, übermäßigen Aufregungen und Überanstrengungen an dem damaligen 9. November, bei der sogenannten Volkszählung, dazu treten die Ernährungsstörungen, vor allem der Hunger." Der Arzt machte eine Pause.
,, Die Seelenstörungen dieser Art haben wir leider in der letzten Zeit zu vielen Hunderten in unserer Klinik." Die Untersuchung war beendet, und der Professor wandte sich zum Gehen.
Plötzlich brach aus mir der Schrei. Er löste sich und hatte die Qual gesprengt, die mich sonst erstickt hätte. Die Verzweiflung um das viel zu junge, verlorene Glück war unsagbar.
Der Arzt war wieder umgekehrt und trat zu mir.
18 Philipp, Die Todgeweihten
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