Sie hatte nun viel Zeit zum Nachdenken und malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie einmal ihre Freiheit zurückgewönne. Es erschien ihr als das herrlichste Geschenk auf Erden, alle Tage des Daseins ohne Bedrohung und Angst verbringen zu dürfen. Auch wollte sie ganz bescheiden sein und mit einem einzigen Zimmer und einem kleinen Wohlstand vorliebnehmen. Als etwas ganz verlockendes stand ihr vor Augen, nach jahrelangem Darben sich einmal wieder sattessen zu dürfen. Sie vermochte sich diese Wonne gar nicht auszudenken.
Vorläufig aber waren noch nicht die geringsten Anzeichen dafür da. Wenn Kitty nach Hause ging, so sah sie immer erst nach der Kommandantur, ob die große Hakenkreuzflagge noch wehte. Das war das sicherste Mittel, alle Träume zu verscheuchen.
Die Wirklichkeit zeigte ihr brutales Antlitz.
Auf Wunsch des Arztes erhielt Kitty eine neue Unterkunft im Nachbarhaus, wo sie eine Bettstelle bekam. Sie durfte nicht mehr auf dem Boden schlafen.
Der Wachthund Stehr hatte für sie aufgehört. Gott sei Dank!
Um die Mittagszeit saß Kitty wieder wie gewöhnlich am Fuße der Bastei . Sie hatte das Kopftuch fest verknotet, da trotz eines wirklich herrlichen Frühlingstages der Wind stark wehte. Und über ihre Knie und um die Hüften breitete sie eine Decke, wie es sich von selbst versteht, wenn man auf dem kalten, feuchten Erdboden sitzt. Die Bänke waren nämlich alle belegt von alten Männern und steinalten Mütterchen. Viele hatten ihre Krücken bei sich oder Stöcke, und dieser und jener sak im Rollstuhl. Es waren eben die ältesten Jahrgänge, die dort unter der wärmenden Sonne, wie Hühner auf einer Stange, eng beisammen hockten. Alle anderen Menschen gingen ihrer Arbeit nach.
Man konnte sich wirklich freuen, es war ja zwar noch lange kein Sommer, aber wie herrlich schien die Sonne. Sie leuchtete nicht nur, sie wärmte auch schon, obgleich
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