2.1.8. 1946

Aus: Die Todgeweihten"

Von Berthie Philipp

Berthie Philipp ist die Frau des bekannten langjährigen Musikkritikers am ,, Ham­burger Anzeiger" Rudolf Philipp. Als Verfasserin von Märchenspielen und verschie­denen Bühnenwerken erwarb sie sich in Hamburg in früheren Jahren einen geach­teten Namen. Die ,, Nichtarierin" wurde von den Nationalsozialisten nach There­sienstadt verbannt. Was sie und viele tausend Leidensgenossen dort erlebten, schil­dert sie in einem Tatsachenroman ,, Die Todgeweihten", an dem die nach Hamburg Zurückgekehrte zur Zeit arbeitet. Sie arbeitet an diesem wichtigen Zeitdokument, aus dem wir anschließend eine Werkprobe bringen, unter den ungünstigsten räum­lichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen. Es wäre zu wünschen, daß die tapfere Frau, die Namenloses durchlitten hat, seitens der maßgeblichen Stellen eine Un­terstützung fände, die ihr die Vollendung ihres schriftstellerischen Werkes ohne den D. Red. harten Druck der Not ermöglichen würde.

Wie ist dieser elende, entwürdigende Tag nur zu beschreiben?

Es hieß in dem Tagesbefehl der SS- Lagerkom­mandantur, daß alle Insassen Theresienstadts sich zum Zwecke einer Volkszählung außerhalb des Lagers am 9. November 1943, um 9 Uhr ein­zufinden hätten.

Nachdem die Rucksäcke, Handtaschen und Mappen hervorgeholt und mit Brotschnitten voll­gestopft waren, versammelten sich die geschlos­senen Gruppen der einzelnen Häuserblocks vor ihren Wohnungen Schlag 6 Uhr und hielten sich marschbereit. Jeder einzelne wurde vom Block­leiter mit seinem Namen aufgerufen und in Reihen zu vier Personen eingeordnet. Männer, Greise, Frauen und Kinder bildeten bald eine endlose lange Schlange, die in den Straßen.wie ein brandendes Meer hin und her wogte. Einer fragte: ,, Wie! Es soll eine Volkszählung stattfinden? Wozu? Wir sind doch alle in den Karteikarten eingetragen."

Darauf der Nachbar: ,, Es ist heut der 9. No­vember. Vergiß das nicht. Wenn wir nur nicht irgendeiner Willkür der Hakenkreuzler zum Opfer fallen."

Der erste stimmte zu. Zu unserer Erholung treten wir heute den Gang bestimmt nicht an. Etwas wird schon dahinter stecken. Aber was?!" Eineinhalb Jahr kreiste man in müder Ein­förmigkeit automatisch zwischen den engen Straßen und Kasernen Theresienstadts von und zu der Arbeit. Ein Stück Natur auf der Bastei für eine kurze Freistunde zum Atemschöpfen war die einzige Erholung und gab einen Ausblick in das gelobte Land der Freiheit. Aber sonst nichts! Hinterher setzte die Qual doppelt stark ein, wenn man zurückkehren mußte in den engen, stinkigen Raum mit den vielen Menschen. Ein­gesperrt in das tägliche Jochr

Einmal nun durften alle hinaus aus den grauen Mauern ihres Gefängnisses, aber nicht ins gol­dene Land der Freiheit, sondern nur bis vor dessen Tor.

Die Frauen hielten ihre Kinder an der Hand und redeten eifrig auf sie ein, die nicht still und ruhig auf einem Fleck bleiben mochten. Wer konnte es ihnen verdenken? Sie jubelten, tollten und lachten und gebärdeten sich wie unbändige Füllen. Noch war kein Bescheid zum Vorrücken gegeben, da ließ man sie gewähren. Endlich,

Befehl ein.

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Himmelskuppel. Vor den Ankömmlingen lag von mut hielt sich jeder musterhaft aufrecht, damit der Morgensonne beschienen und von dem wald- ja nicht durch ihn etwas verdorben würde. umwachsenen Sudetengebirge umrahmt, ein un- Viele Runden hatten die Uniformierten hinter übersehbares grünes Wiesenland, von einigen sich. Mit immer gleichem Hochmut, gleicher Ge­Baumgruppen belebt.

Auf dem Platz war bereits der Lagerkomman­dant mit seinem Stab anwesend. Viele SS - Offi­ziere unterhielten sich abseits miteinander und ihr Lachen tönte bisweilen herüber.

Inzwischen begann die Arbeit der Ordner. Die ungeheuer große Schlange von 38 000 Men­schen wurde aufgelöst und in einzelne Gruppen von 150 Mann, die immer je ein Viereck in Ab­ständen bildeten, geteilt. Diese Karos mußten in eine schnurgerade Linie gebracht werden. Immer Vordermann vor dem Hintermann, ohne Ab­weichung.

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es war halb acht Uhr, da traf der wenig wohler, der Druck vom Herzen schwand. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien und die Luft war mild und würzig.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Mitunter staute sich die Riesenschlange in den Straßen, dann gab es einen kurzen Aufenthalt. Sie schob und wand sich vom Ende des Lagers, in der Bahnhofstraße anfangend, an den vielen Kasernen und Blockhäusern vorbei durch die Barrieren der abgesperrten Viertel, wo die SS­Posten sie durchließ. Weiter ging der Zug über einen Feldweg an dem Krematorium und dem Friedhof und anderen Gebäuden entlang ,, deren Zweck nicht erkenntlich war. Auf den Böschun­gen standen zu beiden Seiten in einer weit aus­einander gezogenen Kette bewaffnete Soldaten mit aufgepflanzten Seitengewehren.

Der Weg war sehr holperig und mit tiefen Erdfurchen durchzogen. Um sich abzulenken von trüben Gedanken, waren die Augen der Wan­dernden auf der Suche nach schönen, lebendigen Eindrücken. Mitunter entdeckten sie unter den Grasbüscheln verstreut bunte Flecke von Blu­men. Unscheinbare, bescheidene Blüten, aber sie berührten das Auge wie ein Lächeln Gottes. Nach einem langen Marsche war das Ziel erreicht.

Wehmütig feierten alle das erste Wiedersehen mit der Weite einer Landschaft und ihrer hohen

lassenheit und aufgeblasener Würde trugen sie den Kopf emporgereckt beim Vorüberschlendern. Jeder einzelne dünkte sich ein Herrscher. Díe stumpfen Soldatengesichter der SA- Leute stachen

merklich von ihnen ab.

Da trat ein Mann vor, meldete sich beim Ordner und fragte bescheiden, ob er austreten

dürfe.

Der Ordner schrie ihn wie ein Berserker an:

Sie müssen bleiben, wo Sie sind! Niemand darf seinen Platz verlassen!" Bestürzt trat der An­geschriene in seine Reihe zurück und murmelte: , Wo soll ich denn meine Notdurft verrichten?" Wiederum verstrich die Zeit. Jetzt war es be­

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reits Nachmittag.

Die Ordner hatten sich heiser geschrien und wischten sich jetzt den Schweiß von der Stirn. Die Aufstellung war beendet. Das Ganze mutete Eine Abzählung der Menschenmassen hatte Sie Ihrem Nebenmann, mal eine tüchtige Maul­wie ein Schachbrett an, auf dem die Menschen immer noch nicht stattgefunden. Die SS - Offiziere schelle. Die hat er nämlich verdient. Stärker, die Figuren des Spieles darstellten. Mit Spannung sah man der Entwicklung der pilgerten auf dem freien Felde hin und her. Sie stärker! Was, das nennen Sie eine Ohrfeige, kreisten um die traurige Parade herum, als Kerl?! Warten Sie, ich werde Ihnen zeigen, was Dinge entgegen. die Men- wären es tote Figuren oder Bäume in einer eine Ohrfeige ist." Er schrie wie besessen.. Er Nun, da völlige Ruhe herrschte, lief nach hinten und blieb bei dem Übeltäter stehen. Er zog den Lederhandschuh von seiner schen standen alle wie Statuen, stumm und be- Landschaft. wegungslos, fühlten sie sich trotzdem ein Die Rufe der Kommandos drangen immer wieder durch die Stille, nur unterbrochen mit- rechten Hand und versetzte dem Überraschten unter von den gellenden Pfiffen der vorüber einen wuchtigen Faustschlag auf das Ohr, dem er drei weitere folgen ließ. ,, Sehen Sie, so wird donnernden Eisenbahnzüge. Die Rauchfahnen es gemacht! Das nenne ich eine Maulschelle!" Der Gezüchtigte hörte die Belehrung nicht der Lokomotiven hingen noch lange in der Luft mehr. Er lag blutend und besinnungslos, auf und schwebten wie graue Schleier vor dem licht­blauen Himmel. dem Boden. Später stellte sich heraus, daß das Trommelfell geplatzt war. Die Ordner bewegten sich jetzt nur noch wie Marionetten. Sinn- und ziellos liefen sie umher. Die ,, Nichtbesichtigung" nahm ihren Fortgang. Die Menge sah alles nur noch wie durch einen Schleier. Mühsam hielt sich jeder aufrecht. Die Versuchung, allen Schrecknissen ein Ende zu machen und sich einfach auf den Boden gleiten zu lassen, war groß.

Die SS - Offiziere in ihren eleganten Uniformen und mit den stolzen' Gesichtern warfen beim Vorüberschlendern ab und zu finstere Blicke auf die wie aus Stein gehauenen Gruppen. Den Knüppel in der behandschuhten Rechten spiele­risch hin und her schwenkend, schienen sie wenig Lust zu einer ernsten Kontrollaufnahme zu haben. Mitunter rief einer der Uniformierten die Ordner herbei und redete oder rügte etwas. Die Situation blieb aber immer die gleiche. Bis zum Mittag stand die Masse auf der weiten zum Fläche in musterhafter Ordnung, wie Photographieren.

Aber die dauernd aufgereckte Haltung, die ge­rade Kopfstellung, die Anspannung, auf einem Fleck stillzustehen, ohne sich rühren zu dürfen, wurde bald zur unerträglichen Qual.

Die Sonne war inzwischen verschwunden und eine empfindliche Kühle machte die Menschen Viele ohnmächtige Frauen und erschauern. Kinder lagen bereits auf dem Boden. Sie wurden vorsichtig verdeckt durch die sich eng sammenschließenden Reihen. Es konnte ihnen niemand helfen.

zu­

Immer noch standen Vordermann vor Hinter­mann, hochgereckt den Kopf in stammer Hal­tung. Jeder einzelne wie festgewachsen mit dem Fleck Erde , auf dem er stand.

Plötzlich ein gellendes Schreien durch die Stille. Alle erbebten und Schauer der Furcht krochen ihnen eisig den Rücken entlang. Was war geschehen?

In der Menge der 38 000 standen eingeschlossen in den Gruppen brave tüchtige Männer aus der Ärzte- und Gelehrtenwelt, es waren. berühmte Namen darunter, dann die Oberingenieure, das technische Personal, Beamte, Kaufleute und die männliche und weibliché Jugend. Sie alle waren ein paar toll gewordenen SS - Leuten zum Spott und Hohn preisgegeben. Es würgte jedem am Herzen. Wer noch nichts von Haß wußte, der lernte ihn in dieser Stunde kennen. Der Offizier blieb vor der Gruppe stehen: Gab es Menschenrechte? Wo blieben die? Sie, da, Mann im vierten Glied rechts, geben Aber es war ja der 9. November. Opfer mußten

Zuerst meldeten sich die Kinder, sie weinten Ein Argloser hatte sich heimlich trotz des Ver­und sagten, sie könnten nicht mehr stehen. Die ängstlichen Mütter und Väter versuchten alle botes zum Austreten aus seiner Reihe entfernt Dinge, die man in solchen Fällen zur Be- und war so ungeschickt verfahren, daß ihn schwichtigung tun konnte. Aber die Kleinen setzten sich schließlich auf den Erdboden. Dann schlossen sich die Reihen enger zusammen, um die Lücken zu vertuschen. Mit wahrem Todes

ein vorüberschlendernder, scharfäugig umher musternder SS - Offizier bemerkt hatte.

Bald jagte ein Sturm heran mit Pfeifen und Fauchen und trieb die Wolken zu einer einzigen

gebracht werden und man verlangte sie von hörte das dumpfe Grollen des Donners folgen. wehrlosen, schutzlosen, unschuldigen Menschen. Wie tödlich langsam schlich die Zeit. Waren es nicht Tage, die man hier auf der dichten Masse zusammen. weiten Fläche verbracht hatte?

Schwäche zu überwinden.

Nun wurde es auch den SS - Offizieren zu un­Ach, dem Elend zuzusehen, wie sich die gemütlich. Sie hatten bereits das Feld verlassen. Reihen lichteten und die Ohnmächtigen sich Nur im Hintergrunde hoben sich die Silhouetten mehrten, wie sich die Menschen bemühten, ihre der Wache haltenden Posten mit ihren auf­gepflanzten Bajonetten vom Himmel ab. Plötzlich hieß es, sich zum Aufbruch zu' rüsten. Die Aussicht, aus dieser quälenden Lage bald Schiffbrüchige können beim Anblick ihrer Retter befreit zu werden, wurde immer geringer. keine größere Freude zeigen, als die bis am Manche gaben die Hoffnung ganz auf. Mit toten Rand der Verzweiflung gebrachten und zu Tode erschöpften Menschen bei diesem Befehl. Vor der Barriere wieder ein Aufenthalt: zwei

blassen Gesichtern starrten sie stumm vor

sich hin.

Es wurde dunkler. Der Himmel überzog, sich Stunden! Endlich öffneten sich die Schranken: mit schweren Wolkenballen. Hinter ihnen zeigte Die Gemarterten strömten in das Lager zurück, sich schon der Schimmer ferner Blitze und man das sie vor zwölf Stunden verlassen hatten.