PIONIER--AIRCONDITIONED 887.
inan, ein bereits mechanisierter Bergsteiger ohne Eispickel und Seil, in einer müßigen Vormittagsstunde eine bequeme Auto- straße hinauf, um vor dem Mittagessen eine Bergaussicht als Cocktail zu genießen. Der eigentliche Gewinn dieses Ausflugs — lohnend nannte seinesgleichen der selige Baedecker— ist übrigens nicht die Aussicht, so unwahrscheinlich regenbogen- farben das rotgrüne Hochgebirge und die blaugrüne Ebene im weiten Umkreis ineinanderfließen, sondern der Tag und Nacht „singende Turm“, an dem wir unterwegs vorbeikamen und haltmachten. Von morgens bis nachts entströmt ihm eine schwermütige Radiomusik, die bald an das Schubertsche Ständ- chen, bald an das Brahmssche„Wiegenlied“ erinnert wie Ein- gesottenes an die Früchte, aus denen es unter Zusatz von viel Zucker gemacht ist. Es ist dies der sogenannte„Will Rogers Shrine“, errichtet zu Ehren des erst vor einem Jahrzehnt ver- storbenen, aber bereits der Legende angehörenden amerikani- schen Dichter- Journalisten Will Rogers , der, eine Art Rosegger der Vereinigten Staaten , besonders im gebirgigen Westen be- liebt, berühmt und gefeiert ist. Ein Wort von ihm, auf dem steinernen Widmungssockel beim Eingang zu seinem Ehren- turm verewigt, begründet und bescheinigt seinen Ruhm.„I never met a man, I did not like‘(Ich bin nie einem Menschen begegnet, dem ich nicht gut war), sagte er von sich selbst, seine Autobiographie mit einer bei Schriftstellern nicht alltäglichen Bescheidenheit in einem Kernsatz zusammenfassend. Wer dürfte ihn ihm nachsprechen? Aber jeder sollte es. Es ist das Herzensbekenntnis eines Stockamerikaners, das als solches auch seine politische Bedeutung hat; denn die sittliche Grund- lage jeder wahren Demokratie ist die Menschenliebe.
Wie ein Stockamerikaner sah Will Rogers auch aus, wovon wir uns in dem vielstöckigen Turm, sanft auf- und nieder- gleitend, auf Schritt und Tritt unter Musikbegleitung über- zeugen können. Das Leben scheint für ihn darin bestanden zu
22 Verlorene Zeit


