DAS ANDERE AMERIKA

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Für diese einmal gegebene Idee bedurfte es eines so eigensin­nigen Idealisten, wie L'Enfant einer war, um sie auszuführen. Schnurgerade Avenuen sind auf dem Papier leicht zu ziehen, man bedient sich dabei eines Lineals. In der Wirklichkeit jedoch stößt man dabei auf nicht nur geographische Hinder­nisse und Vorurteile. L'Enfant wußte davon ein Lied zu singen. Ein großer Grundherr hatte sich in beträchtlicher Entfernung von der neuen Freiheitswiege Washington ein schönes Schloß gebaut. Als es fertig war, befiehlt ihm L'Enfant, es abzutragen, weil es den geraden Lauf einer seiner Avenuen in ihrer wei­teren Entwicklung gefährdet. Der Grundherr wehrt sich, indem er sich auf sein Eigentumsrecht beruft; L'Enfant, der aus der Schule der Französischen Revolution kommt, will von einem Privilegium nichts wissen, dem der Anspruch der Nation ent­gegensteht. Was ist wichtiger, der einzelne oder das Volk, ,, La Patrie", wie sie drüben neuestens sagen? Ein Kampf ent­wickelt sich parallel zur Französischen Revolution, in den der große und weise und gerechte Washington , nach dem die neue Stadt benannt ist, vergeblich schlichtend und vermittelnd ein­zugreifen versucht. Schließlich siegt, wie in jeder Revolution, Vernunft über Leidenschaft und die Wirklichkeit über die Idee. Das Schloß bleibt stehen, die Avenue wird abgelenkt, L'Enfant aber, der gereizte Idealist, zieht sich über seinem geschändeten Plan erbittert und verbittert ins Privatleben zurück. Er lehnt sogar das Nationalgeschenk eines lebenslangen Ruhegehaltes ab, das ihm der Präsident anbieten läßt, und stirbt dreißig Jahre später völlig vergessen in einem Winkel der von ihm ins Leben gerufenen, so lieblich ins Grün der Landschaft gebetteten Stadt.

Obwohl fertig aus der Idee hervorgegangen, wie Pallas Athene aus dem Haupt des Gottvaters Zeus, bedurfte das weise Washington immerhin eines Jahrhunderts, um zu wer­den, was es heute ist und morgen sein wird; ein natürliches