318

MIT MIR IN AMERIKA

der Ferne aufdämmert, wiesengrün auch er, aber weißbemützt. Es ist der Mount Washington , der höchste Berg in New Hamp­ shire , der den Amerikaner an seinen ersten Präsidenten, den Wiener an den Schneeberg erinnert.

Die Kost und die Spaziergänge ließen in Wolfeboro zu wün­schen übrig, was nicht nur an der Vorliebe für rasch ausgebra­tene Hammelkeulen, sondern auch an der amerikanischen Ab­neigung gegen Spazierengehen liegt. Spazierenzugehen erscheint dem Durchschnittsamerikaner als eine sinnlose und infolge­dessen eigentlich närrische Kraftvergeudung. Viel später, am anderen Ende des nordamerikanischen Kontinents, wurde ich einmal von einem den Rayon inspizierenden Offizier ange­halten und zur Ausweisleistung aufgefordert, weil ich nachts vor unserem Hause unter dem gestirnten Himmel ein wenig auf und ab ging. In Amerika geht man auf. Oder man geht ab. Aber in keinem Falle auf und ab. Infolgedessen gibt es auch in der amerikanischen Sommerfrische, von ganz wenigen Aus­nahmen abgesehen, nur Urwälder und dazwischen asphaltierte Autostraßen oder an offenen Gärten vorbeiführende Villen­straßen. Eine von ihnen führte in Wolfeboro sanft ansteigend unter melodisch rauschenden Ulmenwipfeln zu dem etwas höher gelegenen Friedhof hinauf. Ich ging sie oft mit innigem Ver­gnügen und immer in dem beschwichtigenden Gefühl, daß jede Straße hienieden einmal ein Ende hat. Übrigens sind die ame­ rikanischen Friedhöfe viel aufgeschlossener und, wenn man so sagen darf, entgegenkommender angelegt als die europäischen, die in der offenbaren Angst, daß die Toten über Nacht ge­stohlen werden könnten, hinter Mauern und Gittern liegen, die abends immer ängstlich verschlossen werden. Die amerikani­ schen liegen puritanisch nett und bescheiden mitten im täglichen Leben; man kann auch nach sechs Uhr abends vorsprechen, um How do you do? zu den Toten zu sagen. Keine getürmten Marmormäler und aufgeregten Familienszenen belasten das