DAS ANDERE AMERIKA 319

Gewissen der Überlebenden und die eingedrückte Brust des Toten; nicht einmal Grabhügel gibt es, noch irgend welche gärtnerischen Anlagen, die eine fortlaufende Pflege erfordern. Eine graue Granitplatte, schräg in den Boden geklemmt, ver- zeichnet weder den bei uns üblichen Stein gewordenen Schmer- zensschrei, noch das überschwenglich gezeichnete Charakter- bild des Verewigten, noch spricht sie einen oft gar nicht er- widerten Wiedersehenswunsch aus. Vielmehr beschränkt sie sich darauf, den Namen des Toten anzugeben und das Alter, das er erreicht hat, das letztere allerdings mit puritanischer Gewissen- haftigkeit. Man erfährt da zum Beispiel im Vorübergehen von einem verwitterten Grabstein des Pächters Smith aus dem Jahr 1883, daß es der Schwächling alles in allem nur auf77 Jahre 4 Monate und 11 Tage gebracht habe. Traurig aber wahr. Nur die rechnerische Überlegung, daß Pächter Smith, selbst wenn er es auf achtzig gebracht hätte, nun schon seit längerer Zeit tot wäre, konnte mich schließlich im Weiterwandern trösten.

An meinem ersten Sonntagmorgen in Wolfeboro, als ich, von Sommerluft angenehm umfächelt, diese aufschlußreiche Straße unter wiegenden Wipfeln entlang schritt, sah ich mich von einem Herrn im Straßenanzug freundlich gegrüßt, der wartend vor einem schneeig weiß gestrichenen zierlichen Holzhaus stand. Das niedliche Gebäude war eine Kirche und der Herr im Straßenanzug der Pfarrer, der, als der erste zur Stelle, auf die sich nur langsam und spärlich einfindende kleine Herde seiner Glaubensgenossen wartete. Es schien ihm nicht unerwünscht, die Wartezeit durch ein Gespräch zu verkürzen, worauf ich

bereitwillig einging. Nach drei Minuten wußte er, was er wissen wollte, daß ich ein Europaflüchtling war und mit der sagenhaften Mörderbande drüben üble Erfahrungen gemacht hatte. In Wolfeboro waren solche Blutzeugen, von deren tausend- fältigem Anblick die New-Yorker übersättigt waren, noch eine