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spricht in einem vorbildlichen Stil, in vorbildlicher Haltung und mit vorbildlicher Anmut; sie hat Güte, Humor und sogar eine gewisse Schalkheit, wie sie mütterlichen Frauen ansteht, die mit Kindern und darum auch mit Erwachsenen nachsichtig umzugehen wissen. Kein Wunder, noch Zufall und am wenigsten Gunst, daß ihre Lectures sich eines so ungeheuren Zulaufs erfreuen und dies in einem Reich, in dem der Lecturer tonangebend und dementsprechend der Wettbewerb erdrückend ist... ,, All Americans lecture, there must be something in the climate", sagte schon Oscar Wilde .
War Mistreẞ Eleanor Roosevelt die erste First Lady, die ich in New York kennenlernte, so war Dorothy Thompson , einige Zeit nachher, die zweite. Ich hätte sie auch schon zehn Jahre früher kennenlernen können, als sie sich einen Winter lang in Wien auf dem Semmering aufhielt. Pen- Club- Verhältnisse, wie sie in den literarischen ebenso wie in allen anderen Gesellschaften das Vereinsleben würzen, hielten uns damals, sicher nicht unabsichtlich, auseinander. Sie hatte wahrscheinlich eine ganz verkehrte Meinung von mir und ich auch nicht die richtige von ihr, da sie ja erst im Werden war. Jetzt, in New York , in einem geschichtlichen Augenblick, der allen ihren Befürchtungen und Warnungen recht zu geben begann, fand ich sie auf der Höhe ihrer Macht und Persönlichkeit, was auch Persönlichkeiten nicht in jedem Augenblicke ihres Daseins sind. Ich las ihre Artikel, die sie damals noch in der ,, Herald Tribune" veröffentlichte, von der sie sich später, nach durchgeführtem Wahlkampf für Roosevelt , mannhaft schied. Mannhaft: das schien mir überhaupt das bezeichnende Wort für die in ihrem Äußeren so frauenhaft schöne Frau. Sie schrieb und sagte nicht, was ihr ungeheurer Leser- und Radiohörerkreis lesen und hören wollte, sondern was ihrer Meinung und ihrem nur allzu begründeten Urteil entsprach; sie ließ sich von aufgebrachten Geschlechtsgenossinnen ohne Unterlaẞ ,, hysterical" nennen und blieb doch


