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tion mit fünf Monaten Dachau hatte bezahlen müssen, was die mir zuteil gewordene Auszeichnung immerhin hinreichend rechtfertigen mochte. Ich verdanke ihr den Vorzug, mich vor Mistreẞ Eleanor Roosevelt , der ich von der Sekretärin des Klubs vorgestellt wurde, verbeugen zu dürfen und die außerordentliche Frau, die eine first Lady wäre, auch wenn sie nicht die First Lady wäre, nachher als Rednerin zu bewundern. Ihr Thema war, die versammelten amerikanischen Schriftsteller mit vollendeter rednerischer Anmut und ohne die geringste Beimischung von Lehrhaftigkeit daran zu erinnern, wie sehr wünschenswert und ersprießlich es wäre, gerade jetzt, wo Europa immer drohender das Gesichtsfeld verfinsterte, Amerika zu entdecken, aber nicht im Sinne eines sich reaktionär isolierenden Amerika , sondern in jenem sozialen und menschheitlichen Geiste, der allen rednerischen und publizistischen Auslassungen der Frau des Präsidenten zugrunde liegt. Sie erzählte von jenem anderen Amerika , das sie auf ihren rastlosen Vortragsreisen in den verstecktesten Gebirgstälern des ungeheuren Landes kennenlernte: von einem kleinen Jungen, der vom Farmhaus seiner Eltern täglich sechs Meilen, das sind zehn Kilometer, weit zur Schule wanderte, sechs Meilen hin und sechs zurück, Tag für Tag, und der noch nie an einem Wochentag, bei Tisch sitzend, zu Mittag gegessen hatte; von einem Postfräulein irgendwo in den Rocky Mountains , das, um ihren Radiohörern in den sonst unerreichbaren Hochtälern eine Schallplatte mit den neuesten politischen Nachrichten zu verschaffen, neunzehn Meilen weit zu Fuß zu gehen pflegte. Ist dieses Amerika nicht ein interessantes Land? Jawohl, das ist es, darin konnten wir der First Lady nur recht geben, aber nicht nur, weil es solche Postfräuleins, sondern auch weil es solche regierende Frauen hervorbringt, die mit ebensoviel Herzensgüte wie technischer Meisterschaft das Wort beherrschen. Eleanor Roosevelt wäre, wenn sie wie immer hieße, eine der ersten Rednerinnen des Landes. Sie
20 Verlorene Zeit


