NEW YORK UND DER NICKEL

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die sich ins Unendliche vermehrenden Querstraßen, von der ersten bis zur Dreihundertsten und darüber. Nichts schwieriger, als sich in diesem höchst übersichtlichen Straßennetz zu ver­irren, nichts trostloser, als sich zurechtzufinden. Man könnte angesichts dieser flachen Arithmetik gemütskrank werden, und ein junger Schweizer oder Tiroler wurde es in diesem ratio­nalen Gewinkel, das nur der Broadway als einziger irrationaler Straßenzug schrägt. Aber der Broadway, mit seiner abendlichen Lichterkirmeẞ am Times Square , machte ihn auch nicht glück­lich. Mag sein, daß er ein Hirtenjunge war oder ein Dichter oder ein Gemsenjäger. So oder so, er sehnte sich nach einem vertikalen Überblick von Zeit zu Zeit, und da er das Geld nicht besaß, um im Empire für einen Dollar in den Himmel zu schnurren, entlief er dem Ameisengedränge der Tiefe, indem er auf der Feuertreppe des ungefügen Turmes bis zum hundert­undzwanzigsten Stockwerk emporkletterte. Diese gefährliche Klettertour anzutreten, reizte ihn immer wieder, bis ihn eines Tages ein Herzschlag von seiner hoffnungslosen Höhensehn­sucht ein für allemal kurierte.

Der Amerikaner, das hat man nach ein paar Tagen weg, liebt nichts weniger als zu philosophieren, und nichts mehr, als sich eine Geschichte erzählen zu lassen, die ein Quentchen un­ausgesprochener Philosophie in Pillenform enthält. Eine solche scheint mir die kleine, aber lehrreiche Begebenheit vom Sub­waygast und dem Nickel, die mir eine liebe Freundin plau­dernd anvertraute. Die Subway ist die New- Yorker Unter­grundbahn, ein richtiges Perpetuum mobile, das Tag und Nacht ununterbrochen weiterverkehrt, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, in Ewigkeit Amen, und alles das und überall hin für einen Nickel, den man beim Einsteigen in einen Schlitz wirft, und für den man dann dreißig Kilometer weit unkontrol­liert ins Gelände hinausfahren kann und, wenn man sitzen bleibt, auch wieder zurück, und so fort in infinitum, bis zur