NEW YORK UND DER NICKEL

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Es gibt weitgereiste New- Yorker, die nach dem zweiten Highball launig behaupten, daß New York unter allen Städ­ten sie am meisten an Venedig erinnere. Vom Empireturme ge­sehen, tut es das wirklich, lagunendurchzogen, wie es sich aus der ungeheuren Höhe ausnimmt. Auch das Goldlicht, in dem die Himmelskratzer, jetzt Himmelsschmeichler, an schönen Tagen schwimmen, hat etwas Venezianisches. Aber natürlich gibt es auch einige Verschiedenheiten. Eine davon ist, daß New York , im Gegensatz zu Venedig , auf dem Granit von Man­ hattan fußt, der allein einen solchen hundertundzwanzig Stock­werke hohen Betongiganten wie den Empire zu stemmen ver­mag. Ein anderer grundlegender Unterschied wird daran merk­bar, daß in New York nicht, wie in europäischen Städten, die Kirchen die Wohnhäuser, sondern die Wohnhäuser die Kirchen turmhoch überragen. Doch liegt es sicher nur an der Verzinsung, wenn man die Gotteshäuser hier nicht so hoch wie die Menschenhäuser baut. Anderseits kann man sich auch noch in Kirchenhöhe über ihre Bestimmung täuschen, denn was im Vorübergehen wie eine Kathedralenfront aussieht, ist meist nur der für die Ewigkeit gefügte Quaderbau einer Bank oder Lebensversicherungsanstalt. Aber es macht nicht viel aus, denn auch die Kirchen sind hier mehr oder weniger nur Kassen­schränke des Glaubens, Banken Gottes sozusagen. Man ruht in Gott, und es ist ein Safe, man glaubt in einem Safe zu ruhen, und es ist nur Gott .

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Amerika ist bekanntlich der Erdteil ohne Mittelalter. Aber die Sky- Line, von der Höhe des Central Parks aus bestaunt, hat etwas entschieden Mittelalterliches, ja sie nimmt sich geradezu aus wie das Profil einer mediävalen Festung mit Mauerwällen, Wehrgängen und Luginsland- Türmen. Es ist die Zinnenlinie