234

HITLERS GAST

Ein Reh trat eben aus dem Kornfeld und äugte mit leicht gehobenem Vorderlauf aus der Ferne zu mir herüber. ,, Schau nur, ein Reh!" wisperte ich meinem karrenschiebenden Kame­raden zu. Er schickte einen bösen Blick in die von mir mit dem Kinn gewiesene Richtung und knurrte verdrießlich: ,, A Hund!", den ächzenden Karren weiter bewegend. Aber gleich darauf, als das gewarnte Reh mit langen Sprüngen gegen den Wald zu flüchtete, mußte er widerwillig zugeben, daß es wirklich und wahrhaftig ein junges Reh gewesen war, dessen zierlicher Anblick mich über das feldgraue Dachauer Inferno erhoben hatte.

,, Schwere Arbeit" hatte Hitler in seiner ,, Mein Kampf " über­schriebenen Parteibibel für die, Schutzhaftgefangenen" vor­geschrieben und das war es wahrhaftig, wozu wir uns zehn Stunden täglich oder, wenn einer nicht gut tat, zwölf Stunden täglich unerbittlich verurteilt sahen: Wir, das hieß in meinem Falle, die vorausgesandte kleine Gruppe politischer Dissiden­ten, will sagen überzeugter Österreicher. Und aus was für Elementen bestand dieser erste Abhub österreichischer Mei­nungsgegner? Da war zunächst die bessere Hälfte der abgetre­tenen Schuschnigg - Regierung, Staatsminister und Kabinetts­direktoren; da war der Vizepräsident des Wiener Strafgerichts, das die Dollfuß - Mörder verurteilt hatte; da waren Ärzte, Advokaten, Großindustrielle, Kaufhausbesitzer und Staats­anwälte; da war der Propagandachef Oberst Adam, der als erster unter meinen Augen im Kupee geohrfeigt wurde; da waren ein paar Kabarettleute und Journalisten, Korresponden­ten auswärtiger Zeitungen, ein paar Generale, die Führer der Vaterländischen Front und anderer Abwehrorganisationen, so­weit sie nicht gleich in der ersten Nacht erschossen worden