GASTSPIEL IN DER HULLE

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Es scheint mir kaum bemerkenswert, daß wir während dieser zwölfstündigen Eisenbahnfahrt, wie auch in den nach­folgenden zwölf Stunden, die mit unserer Übernahme und Einkleidung hingingen, keinen Bissen zu essen bekamen, noch war uns ein Schluck Wasser gegönnt. In Wahrheit merkten wir es kaum, so sehr waren wir mit anderen Dingen beschäftigt. Es war eine fast angenehme Überraschung, als wir nach vierund­zwanzigstündigem atemlosen Fasten abends in der Baracke jeder einen Ranken Brot und ein kleines Stück Schafkäse zu­geteilt erhielten. Ein Trunk eiskalten Wassers mundete köst­lich dazu. Es war Gebirgswasser, das von den in der Ferne blauenden Schneebergen herunterkam und mit einer noch natürlichen Frische durch das auf einer leicht abschüssigen Hochebene gebettete Lager floẞ. Dachau , nicht das Lager, aber das nahegelegene Dorf mit seinem weißen Kirchtürmchen, das aus dem Grün weit weg herüberlugte, war ein alter Maler­winkel, so etwas wie ein deutsches Barbizon, in dem noch um die Jahrhundertwende ein spitzbärtiges, schlapphütiges junges Malergeschlecht sich liederlich herumtrieb. Die Landschaft, die es umgab, war die lieblichste, und es war ein Jammer, daß man sie über die acht Fuß hohe Einfassungsmauer kaum zu sehen bekam. Höchstens die Ofensetzer", die auf den Dächern der Baracken bei den Kaminen herumstiegen, konnten das, oder die am ,, Humusberg" karrten, einem kleinen Schuttgebirge im unverbauten Winkel des Lagers. Ich erinnere mich eines früh­sommerlichen Junimorgens, an dem ich mich beim Sand­schaufeln so stellen konnte, daß ich die malerischen Reize dieser Landschaft genuẞsüchtig zu überblicken vermochte; mit ihren schwarzgrünen Waldstücken und den ährenblonden Feldern dazwischen unter dem traumblauen Himmel weithingedehnt bis zu den verdämmernden Schneegefilden des Alpensaums, sah sie aus wie ein aus dem Rahmen gesprungenes, in die Natur zurückgekehrtes Gemälde des guten deutschen Meisters Thoma.