GASTSPIEL IN DER HULLE
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Als schließlich geschehen war, was nicht geschehen konnte - was tun? Abwarten schien mir das Vernünftigste und war vielleicht wirklich das Klügste. Ich hatte einen auffallenden Namen, der in Österreich allgemein bekannt war. Auch hatte ich, obwohl kein Politiker, und vielleicht eben darum aus meiner Abneigung gegen den Nationalsozialismus im Inland und Ausland nie ein Hehl gemacht. Vermutlich stand ich längst auf einer Schwarzen Liste. Man hätte mich, hätte ich nach dem 11. März über die österreichische Grenze zu rutschen versucht, höchstwahrscheinlich festgehalten, und was mir dann, angesichts eines offenkundigen Fluchtversuches bevorstand, ließ sich ermessen. Übrigens, wohin wäre ich geflohen. Vermutlich nach Paris , um zwei Jahre später, nach dem Fall Frankreichs und Europas , mich über die Pyrenäen nach Amerika zu retten, vorausgesetzt, daß ich dazu noch imstande gewesen wäre.
Diese nachträgliche Lebensrechnung anzustellen, hätte wenig Sinn, bewiese sie nicht etwas, das wichtiger ist als die Unabänderlichkeit eines für die Allgemeinheit unwichtigen Einzelschicksals, nämlich die Tatsache, daß an jenem 11. März 1938 zugleich mit Österreich ganz Europa vor die Hunde ging. Mit dem mitteleuropäischen Kulturzentrum Wien , dessen auch negative Bedeutung man in den letzten zwanzig Jahre europäischer Geschichte strafbar unterschätzt hatte, wurden die aus ihrem Zusammenhang gerissenen ,, Nachfolgestaaten " der vormaligen österreichisch - ungarischen Monarchie einzeln unhaltbar. Die Tschechoslowakei , Jugoslawien , Ungarn hatten nur noch gezählte Schicksalstage. Und bald genug war das ganze westliche Europa in ein einziges deutsches Konzentrationslager verwandelt, dessen Bewohnerschaft aus Gefangenen und Landsknechten bestand. Ich war nur etwas früher als alle anderen nach Dachau gekommen.
Es war ein freudlos einsames Mittagessen, das an jenem 21. März der Besuch der von der Gestapo ausgesandten
15 Verlorene Zeit


