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Seipel war ein bedeutender Kopf und hochachtbarer Charakter. An seinen reinen Absichten war ebenso wenig zu zweifeln, wie an seinen reinen Händen. Daß es zugleich eine geschickte Hand war, die er handhabte, schien ein politischer Nebengewinn. Sein Cäsarenkopf war nicht nur der eines Römlings, sondern auch eines Römers; er verstand die Herrschkunst im katholischen wie im antiken Sinne und war dabei frei von Herrschsucht. So ließ sich alles von ihm sagen, was zugunsten der Kirche spricht, wo sie in der Sphäre des Glaubens bleibt, und nur wenig geltend machen von dem, was den Klerus belastet, wo er klerikal wird. Seine Rückschrittlichkeit war mehr philosophischer als politischer Natur. Trotzdem traten bedenkliche Folgen seiner die Reaktion ermutigenden Haltung bald genug zutage. Ich glaube, es geschah damals, daß unser Hausmädchen, sich zeitgemäß versprechend, mir beim Nachhausekommen meldete:„ Die Reaktion hat angerufen". Was sie sagen wollte, war, daß die Redaktion angerufen hätte.
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Die Reaktion rief auch im Falle der Schattendorfer Arbeitermörder an, die von den Wiener Geschworenen freigesprochen wurden. Daraus entstand der Brand des Wiener Justizpalastes, der wieder die Arbeiterschaft ins Unrecht setzte. Die Arbeiterfeinde erstarkten und verhinderten durch Heranziehung des ,, Heimatschutzes" einer bereits faschistischen Abwehrorganisation- den angedrohten Generalstreik. Nach dieser ersten verlorenen Schlacht der österreichischen Sozialdemokratie war es möglich, ihre Front Schritt für Schritt zurückzudrängen; der doktrinäre Starrsinn einiger ihrer Führer und Hetzpriester erleichterte diese militärische Operation. Schlieẞlich kam es, sieben Jahre später, zur sogenannten„, Niederwerfung der Roten Revolte" unter Seipels Nachfolger Dollfuẞ . Und nun rief die Reaktion nicht mehr, nun riefen bereits die anderen an.
In jenem Augenblick aber, 1926, mittwegs zwischen Revolu


