212 ANFANG VOM ENDE UND ENDE VOM ANFANG

Theaterfreude sprühende kleine Stück zur Aufführung zu brin- gen. Erst ein Vierteljahrhundert später kam es in verwässerter und versüßlichter Form an der Comedie zur Darstellung, durch gespreizte Alexandriner um jede Wirkung gebracht. Wieder ein Vierteljahrhundert später, mitten im Weltkrieg, suchte Copeau nach einem Einakter mit einer Rolle für die charmante Madame Tessier, den er zur Ergänzung eines dichterisch unter- ernährten Marivaux-Abends brauchte. Seine glückliche Hand läßt ihn nach jenerCarrosse greifen, die er in der Folge an ungefähr tausend Abenden mehr oder minder en suite spielt in einer allerdings brillanten Besetzung. Ich verliebte mich in das ahnungslose Meisterwerk eines Dramatikers, der keine Ahnung hatte, daß er ein Dramatiker war, und brachte es einige Jahre später am Wiener Josefstädtertheater zur Auf- führung, wo es, gänzlich mißverstanden, wieder gar keinen Erfolg hatte. Der weltberühmte Däne Georg Brandes , dessenVoltaire auch in Wien zahlreiche Leser gefunden hatte, kam einige Jahre später auf einer Vortragsreise nach Wien , wo er ein tausendköpfiges Publikum im Großen Konzerthaussaal ver- sammelte. Es war im Frühjahr 1926, sieben Jahre nacı Friedensschluß. Nach sieben Jahren, heißt es, ist der Mensch ein anderer, und so ist es auch Menschenwerk. Wir waren jetzt schon so tief in unserer Republik , daß wir beinahe schon wieder draußen waren oder jedenfalls auf dem besten Weg dazu. Unsere Währung war zwar saniert und erwies sich in saniertem Zustand als lebensfähig. Der sie wieder auf die Beine gebracht hatte, war der Prälat Seipel, vormals kaiser- licher Minister, von dem das Bürgertum in Österreich voraus- setzte, und mit Recht voraussetzte, daß er unsmächtig durch des Glaubens Stütze, wie es in der alten Volkshymne hieß, mit weiser Hand führen würde. Man hatte den frommen Text zeitgemäß abgewandelt, die Melodie war die gleiche.