207
mehr in dem was fehlte, als was allenfalls noch vorhanden war. Was fehlte, waren Manieren, Gefälligkeit, Liebenswürdigkeit, auch der Erscheinung: die zierlich herangepflegte Haartracht des jungen Mädchens, die sorgfältig geglättete Scheitelfrisur des wohlgearteten Jünglings; das Korallenkettchen oder Perlenschnürchen um ihren, der gestärkte Glanzkragen und die Krawatte um seinen Hals; der Muff im Winter, der Sonnenschirm im Sommer, die Handschuhe und, da die jungen Leute nicht mehr spazierengingen, der sinnlos gewordene Spazierstock zu allen Jahreszeiten. Und ein gemeinsamer Zug im Bilde dieser. Zwanzigjährigen war auch, daß sie hutlos in den Straßen umherliefen, was freilich auch eine politische Bedeutung hatte. In seiner Erneuerung der ,, Drei- Groschen- Oper " hatte Bert Brecht im Jazztempo gereimt:„ Der Mensch ist gar nicht gut Drum hau ihm auf den Hut! Hast du ihm auf den Hut gehaut
-
-
Dann wird er wieder gut." Der Hut war die abgeschaffte Autorität. Diese Jugend glaubte weder an Gott noch an den Teufel. Aber sie schwor auf Karl Kraus , den aus dem liberalen Nest gefallenen Satiriker.
All das war schlimm genug, aber es gab auch Lichtblicke, deren wir uns dankbar erinnern wollen, und gemessen an den Verhältnissen im benachbarten Deutschen Reich taumelten wir vergleichsweise beschaulich zum Abgrund. Wenn schon gestorben sein muß, dann wenigstens lustig, sagt der Wiener , und an diese goldene Regel hielt sich auch die Wienerin, den Jammer der Zeit wenigstens zeitweise durch ihr glückliches und beglükkendes Naturell heiter überbrückend. Sogar der Währungsschwund, die furchtbare Nachkriegskrankheit der Inflation, hielt sich in Österreich in berechenbaren Grenzen und ging nicht gleich ins Astronomische wie in Deutschland . Immerhin wurde


