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ANFANG VOM ENDE UND ENDE VOM ANFANG
nachten wie auch an Geburtstagen und Namenstagen pünktlich verabreicht, so daß ich mit Fug behaupten konnte, die Wiener Bevölkerung bestehe aus Bettlern, die sich gegenseitig beschenkten eine Bemerkung, die die Auslandskorrespondenten nicht unter den Tisch fallen ließen.
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In dem uns benachbarten Belvederegarten, dem Palais Royal von Wien , merkte man den allgemeinen Verfall nicht nur an den trockengelegten Fontänen und unzulänglich bekiesten Wegen, sondern auch an dem Nichtmehrvorhandensein zweier Figuren, die, wie meine Frau behauptete, für Vorkriegs- Wien hier charakteristisch gewesen waren und zur lebendigen Staffage gehörten. Die eine war der hochgewachsene Gardeoffizier im schneeweißen, scharlachrot gefütterten, bis zu den Silbersporen herabreichenden Mantel; die andere die wadenstolze, rotbestrumpfte hanakische Amme, mit wippenden kurzen Röckchen, schwarzem Samtmieder und rotem Umschlagtuch, das, über den Kopf gezogen, das frische Bauerngesicht nischenartig umrahmte. Sie hatte, aus Böhmen kommend, den Wiener Wohlstand durch die Jahrhunderte aufgesäugt bis zu dem Augenblick, da sie, eine selbstbewußte tschechoslowakische Staatsbürgerin geworden, nur noch ihre eigenen Kinder säugte. Es war ihr von Herzen gegönnt, aber der Wiener Wohlstand war darüber ein unterernährtes Flaschenkind geworden.
Der ältere Wiener erkannte in diesen grauen Elendstagen sein Wien nicht wieder und die noch bedauernswertere Jugend hatte es nie gekannt. Ein bankrottes Bürgertum hatte in ihren Augen den dümmsten und überflüssigsten aller Kriege verschuldet, und so war es nur eine seelische Reflexbewegung, wenn diese unterernährte, aus dem bürgerlichen Nest gefallene Nachkriegsjugend den Proletarier in sich nicht allein nach außen kehrte, sondern mit gereiztem Stolz zur Schau trug. Diese ihre innere Haltung kam auch in ihrem äußeren Menschen zum Ausdruck, und zwar, dem Gesetz der Zeit entsprechend, auch hier


