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liche Mittelstandsfrau von ihren ,, Gilt- edgeg"-Anlagepapieren, die vor zehn Jahren ungefähr tausend Dollar im Jahr abwarfen, nun eine Jahresrente von drei Cents bezieht. Und dabei muẞ sie sich als eine Angehörige der ,, Bourgeoisie" verhöhnen lassen. Soweit der Mittelstand. Aber auch der vorübergehend begünstigte Arbeiterstand, der jetzt sozialistisch regiert, bleibt in seiner Lebenshaltung hinter dem kapitalistisch organisierten Amerika weit zurück. Den ,, ausgebeuteten" amerikanischen Arbeiter machte zumindest seine Arbeit satt. In Wien , wo er sich das Essen ertrotzt, bleibt er schließlich auch noch nach dem Essen hungrig.
Die Verschiebung der Stände machte sich auch im Stadtbild bemerkbar. Während die Hofburg in Abwesenheit des Hausherrn hoffnungslos verfiel, weil es an den nötigen Mitteln fehlte, auch nur den abbröckelnden Verputz zu erneuern, entstanden weit draußen in der Vorstadt die neuen Volkswohnhäuser, vorbildlich hygienisch gebaut, von Licht und Luft durchflutet, mit Swimming pools, Badezimmern, Spielplätzen für die Kinder, Versammlungsräumen, Arbeiterbibliotheken... Hocherfreulich vom Standpunkt sozialer Gerechtigkeit, aber das Opfer war die jetzt so bekümmert blickende ,, Innere Stadt " mit den angrenzenden vormaligen Wohlstandsvierteln. Der Vergnügungsreisende, der das Wien des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts noch in rauschender Erinnerung hatte, fand sich in diesen verstummten Straßen kaum mehr zurecht, in denen ein entthrontes Bürgertum sich an verfallenden Häuserfronten scheu entlang drückte. Wo waren die federnd rollenden Fiaker auf Gummirädern, mit den tanzenden, glänzend gestriegelten Pferdchen und dem bei der Anrede merkbar nach Wein riechenden jovialen Kutscher? Wo die spiegelnden, von einem livrierten Chauffeur gelenkten Automobile? Wo die ge


