REPUBLIK BIS AUF WEITERES

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Subagenten abrichtete. Der vormalige Sechserdragoner ein kaiserliches Eliteregiment gewöhnte sich. Als ihm aber im Büro der ihm übergeordnete ehemalige Schwimmeister, dem er entgegenkommend die Zigarette anzündete, für diese ritter­liche Aufmerksamkeit zu danken vergaß, gab er die Stellung auf und wurde Nazi.

Man hat, was sich damals überall in Europa vollzog, die vertikale Völkerwanderung genannt. Die arbeitende Klasse stieg auf, und der Mittelstand sank im gleichen Maß. Die Auf­waschfrau im Laboratorium bezog, weil sie organisiert war, eine Zeitlang tatsächlich ein höheres Gehalt als der nicht­organisierte Professor, der vielleicht soeben, nach jahrelanger Vorarbeit, ein neues chemisches Element entdeckt hatte. Das Schlimmste aber war, daß auch die Mittelstandsfrau ein Auf­waschweib geworden war, in ihrem eigenen Hause nämlich, und daß sie dafür überhaupt nicht bezahlt wurde.

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SO

Das Tagebuch einer Wienerin, das Mitte der zwanziger Jahre in englischer Sprache auch in Amerika erschien, gibt darüber in erschütternder Weise Auskunft. Frau Anna Eisenberger hieß die Dame, die ich flüchtig auch in Wien kennengelernt hatte, deren Buch ,, Blockade" ich aber erst in Amerika las ist ein typisches Beispiel für das, was in den Jahren 1914 bis 1924 über diesen Zeitraum erstreckt sich das Tagebuch jeder von uns mehr oder weniger selbst erlebte. Gattin eines ,, Hofarztes", der zugleich Abteilungschef im Wiedner Kranken­haus ist, sieht sich die einer patrizischen Wiener Familie ent­stammende junge Frau 1914 von einer achtgliedrigen blühen­den Familie umgeben. 1919, nach dem unglücklichen Krieg, überschaut sie am Weihnachtsabend, was ihr geblieben ist: der eine Sohn gefallen, der zweite ein Kriegsblinder, der dritte, der bloß ein Bein im Krieg verloren hat, auf einer selbst­gebastelten Prothese durchs Haus humpelnd; seine Frau, seit Jahren unterernährt, stirbt an Wochenbettuberkulose; der Hof­