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ANFANG VOM ENDE UND ENDE VOM ANFANG

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war die Revolution, die in wiederholten Anläufen erfolgte oder nicht erfolgte und zu ihren Aufzügen jeweils die Ringstraße benötigte. In solchen Fällen diente die parallel zur Ringstraße zirkelnde Zweier"-Linie der Wiener Nobelstraße zur Ent­lastung. Und auch daraus wurde mit der Zeit eine Institution, so daß einige Jahre später ein Straßenbahnschaffner einem Fahrgast, der mit der erschrockenen Bemerkung einstieg: ,, Wir haben schon wieder eine Revolution!", gleichmütig, den Fahr­schein markierend, erwidern konnte: ,, Wenn wir eine Revo­lution haben, fahren wir auf der Zweier'- Linie."

In keinem Falle war die Wiener Elektrische jetzt noch ein so angenehmer Aufenthalt wie vormals, als sie einem mit Maha­goni ausgetäfelten Salönchen glich. Das Überfüllungsverbot war aufgehoben und auf der rückwärtigen Plattform drängten sich statt der früher zugelassenen sechs Stehplätze regelmäßig zwei Dutzend Fahrgäste, darunter auch Kinder, von denen man meistens nur die Füße sah. Erst beim Aussteigen wurden ihre unterernährten grauen Gesichtchen bemerkbar.

Unter solchen Voraussetzungen stürmte an dem Tag, von dem ich erzählen will, ein bedrohlich gebauter Wiener Klein­bürger mit vorgestoßenem Kopf das überfüllte Trittbrett, von dem bereits eine Traube von Fahrgästen mit pendelnden Beinen herunterhing. Vergeblich versuchte der Schaffner den Ansturm zu vereiteln, indem er mit der einen Hand das Ab­fahrtssignal gab und gleichzeitig den anderen Arm abwehrend ausstreckte. Der Rohling stieß ihn beiseite, schwang sich auf und krönte schnaubend seinen Sieg mit dem auch humoristisch gemeinten Wiener Gewaltwort: ,, Sie glauben wohl, weil jetzt Republik ist, kann jeder machen was er will?"

Man braucht diese Äußerung nicht ernster zu nehmen, als sie genommen sein wollte. Eins steht fest: daß große Teile der Wiener Bevölkerung glaubten, Freiheit bedeute Schranken­losigkeit, wo sie doch nur Selbstbeschränkung bedeuten kann.