REPUBLIK BIS AUF WEITERES

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Nicht ein immer vorhandenes Auflehnungsbedürfnis des Wiener Volkes mußte gestärkt, sein Verantwortungsgefühl mußte geweckt werden. Hier lag die Schwierigkeit für den ein­zelnen wie für die Parteien. Die von Wilson proklamierte Demokratie stellte ein Reifezeugnis dar ohne die Reifeprüfung, die notwendigerweise hätte vorangehen müssen. Aber wie hätte das Volk diese Prüfung bestehen sollen ohne die Schulung der Republik , die den Bürger zur Mitverantwortung erzieht. Vor­derhand bestand für die überwiegende Mehrheit das Problem nur darin, den Nebenmenschen zum Mitschuldigen bei der Übernahme der Macht zu machen, für die ja auch bisher immer ein anderer die Verantwortung übernommen hatte. Nicht ein­mal die Sozialdemokraten, die sich in der Monarchie ganz wohl gefühlt hatten, waren innerlich darauf vorbereitet, allein zu regieren. Sie schlossen lieber mit den Großdeutschen und den Christlichsozialen ein Regierungsbündnis, dessen innere Un­aufrichtigkeit sie später zu Fall brachte. Der Mann auf der Straße aber, auch wenn er nicht so gewalttätig auf eine Elek­trische aufsprang, glaubte von Anfang an nicht an die Halt­barkeit des neuen, ohne die Klammer eines Gesamtbewußt­seins zusammengezimmerten Regierungsgebäudes. ,, Die drei Manderln werden' s nicht machen", sagten achselzuckend die Wiener. Die drei Männer, die sie schielend ins Auge faßten, waren die drei Obmänner der drei großen, über Nacht zur Regierung gelangten Parteien.

Bis auf weiteres waren wir also eine Republik , ein Bundes­staat! Dr. Hans Kelsen , ein feuriger, junger Staatsrechtslehrer von ausnahmsweise schöpferischer Begabung, arbeitete flugs eine schöne Verfassung aus, worauf die junge Republik stolz einen Kanzler wählte. Es war ein Sozialdemokrat, der dyna­mische Dr. Renner; bis auf weiteres! zwinkerten die beiden anderen Parteihäuptlinge.

Einige Monate später reiste der abgesetzte Kaiser in Be­

13 Verlorene Zeit