BESUCH IM DEUTSCHEN HAUPTQUARTIER 185
Propagandareisen sind, bei längerer Kriegsdauer, immer ein verdächtiges Symptom. Ihre Voraussetzung ist, daß etwas ver- schleiert oder verkleistert werden müsse; und dies gilt beson- ders von Koalitionskriegen, wie wir nicht nur aus der Geschichte des ersten Weltkrieges wissen. Die Moral wird unter Verbün- deten nur gehoben, wo sie sinkt.
Es war denn auch im vierten Kriegswinter, bald nach jenem Ausflug an die deutsche Front, daß mir eine ältere Berliner Dame, der ich ein halbes Pfund Butter von ihrer Wiener Nichte mit sträflicher Umgehung des bestehenden Kartenzwanges zu- steckte, hinter der vorgehaltenen Hand zwinkernd anvertraute: „Der Berliner Schutzmann n im m t bereits.“
Am Abend eines dieser Tage, der letzten, die ich im kaiser- lichen Berlin verbrachte, sah ich in Reinhardts Theater den neu- inszenierten„Don Juan“ von Moliere , ein nur selten gespieltes hintergründiges und geistreiches Meisterwerk, das neuerlich ins Bühnenlicht gehoben zu haben eines der vielen Verdienste Max Reinhardts ist. Albert Bassermann , der größte deutsche Schau- spieler, den Nazi-Deutschland ebenso leichtherzig wie Thomas Mann und Einstein an Amerika abgetreten hat, schuf in dem Verbrecher Don Juan— denn so muß man ihn ohne jede Ein- schränkung nennen— ein Charakterporträt in Rembrandtfarben. Zumal die Szene mit dem Bettler, den der gerade beschäfti- gungslose Verführer zu einer Gotteslästerung verführen will, und der Schluß des zweiten Aktes, wenn Don Juan mit seinem Diener die Kleider tauscht, um seinen Verfolgern zu entgehen, sind mir unvergeßlich. Der Diener, der weiß, daß ihn diese Verkleidung das Leben kosten kann, macht bescheidene Ein- wände.„Und wenn sie mich umbringen?“ fragt er erschrocken. „Es ist ein Glück, für seinen Herrn sterben zu dürfen“, er- widert Don Juan, ihm den Rücken kehrend. Ich werde den Ton- fall der preußischen Herrenklasse nie vergessen, in dem Basser- mann in den Tagen von Ypern und Verdun diese Worte sprach.


