164 ANFANG VOM ENDE UND ENDE VOM ANFANG
So nämlich hab’ ich ihn in Gedanken von Anfang an genannt und später hat sich diese Vorstellung in mir immer mehr ver- wurzelt. Ich bin gar nicht mehr davon losgekommen, habe Tag und Nacht darunter gelitten. Das freudlose Karstgelände um mich herum erschien mir nur noch als ein einziger Garten des Todes mit Menschen, die wie Blumen, Blumen, die wie Men- schen vor ihrer Zeit welkten und starben.
Am Rande unseres Schützengrabens standen ein paar Schlüs- selblumen; Himmelschlüssel nennt man sie gewöhnlich... Die kleinen Blütensterne, die mit den Augen liebzuhaben mir wochenlang ein Trost gewesen war, flogen mir eines Tages zer- fetzt ins Gesicht, von einer einschlagenden Granate aus dem Boden gerissen. Und ein andermal hob der Luftdruck einer Bombe ein blühendes Pfirsichbäumchen aus seiner Erdmulde und stürzte es kopfüber in unsere Stellung. Es war ein Jammer, mit- anzusehen, wie es nach wenigen Stunden umkam. Die Blüten fielen ab, der Boden unseres Grabens färbte sich rosa.
Mit den Menschen war es nicht anders. Ich will den gnädigen Herrn mit Einzelheiten lieber verschonen, der gnädige Herr kennt ja den Krieg. Aber das eine darf man mir glauben, es war grauenvoll, besonders in den letzten Wochen, und am aller- schlimmsten, als wir vor drei Tagen das vorgeschobene Graben- stück am Rand des ‚„Totenwäldchens“ im elfmaligen Ansturm zurückeroberten. Ich hab’ den Sturm bis zuletzt mitgemacht und bin in Blut und Wunden gewatet wie in einem Mohnfeld. Aber als dann der Mond aufgestiegen ist und heruntergeschaut hat auf das dampfende Leichenfeld, da hab’ ich’s plötzlich nicht länger ausgehalten dort vorne.
Eine Sehnsucht nach unserem friedlichen Garten, nach den Blumen, die unbetreut zu Hause auf mich warteten, überkam mich, zwang mich zu einer Handlung, die ich nicht verantworten kann. Ich eignete mir den Urlaubsschein eines toten Kameraden an und entfloh der Hölle.


