WER HÖRT AUF KASSANDRA?
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vielen Rehböcken und Hirschen. Er war ein rastloser Weidmann auf seinem böhmischen Gut Konopischt und in den Alpentälern von Blühnbach. Ein Jäger war auch Franz Joseph bis ins höchste Alter. Der Unterschied war, daß der Kaiser auf die Jagd ging, um die Einsamkeit zu suchen. Der Thronfolger suchte Opfer.
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So beschaffen war der Mann, der als der nächste zum Herrscher auf den Stufen des Thrones stand, ungeduldig auf den Tod seines Vorgängers wartend. Ein unheimlicher Schatten umschwebte ihn von Jugend auf. Er war zwischen zwanzig und dreißig schwer lungenleidend gewesen, und während er in Ägypten Heilung suchte, war sein jüngerer Bruder Otto in Wien zum vermutlichen Thronerben vorgerückt, was man den wehrlos Abwesenden immer deutlicher merken ließ. Seine besten Freunde und scheinbar treuesten Anhänger gaben damals Franz Ferdinand auf, was dieser ihnen nie vergaß. Er wurde rachsüchtig und ein Menschenhasser. ,, Sie halten jeden Ihrer Nebenmenschen für einen Engel", sagte er viel später einmal zu Conrad: ,, Ich setze bei jedem voraus, daß er ein Schurke ist und lasse mich nur durch die Tat vom Gegenteil überzeugen." Auch daß er das Glück einer Liebesheirat mit dem Erbverzicht seiner mutmaßlichen Kinder erkaufen mußte, machte ihn nicht umgänglicher, noch konnte die Behandlung, die seiner nur morganatischen Gattin bei Hof zuteil wurde, ihn milder stimmen. Er sah sich überall zurückgedrängt, und um zu zeigen, daß er auch da war, drängte er sich vor; sein Ehrgeiz wuchs mit seiner Erfolglosigkeit. Einmal sollte ein neuer Gouverneur der Bodenkreditanstalt ernannt werden. Die Bewerbung eines hochbefähigten und hochgekommenen ehemaligen Parlamentsstenographen, dessen Rasse und Herkunft bei den Erbgesessenen Anstoß erregten, stand im Vordergrund. Der Thronerbe erfuhr davon und sprach sich mit gewohnter Heftigkeit gegen die Ernennung aus. Am nächsten Tage war Sieghart ernannt. Wie konnte das und wie so rasch geschehen? Sehr einfach. Man
9 Verlorene Zeit


