WER HORT AUF KASSANDRA?

123

theater, doch war es an seinem Hof, bis zuletzt, aufs liebens­würdigste vertreten durch Frau Katharina Schratt , mit der ihn eine ergraute Freundschaft verband. Aber auch Theaterlogen haben einen horror vacui, und als der Kaiser ausblieb, sah man desto häufiger den Thronfolger und seine Gemahlin in der Hofloge. Sie gingen sogar, was neu war, zu Erstaufführungen, weniger vielleicht aus wirklicher Theaterfreude, als um sich dem Volke zu zeigen und um Einfluß auf das Repertoire zu nehmen. In diesem Sinne sagte die Herzogin von Hohenberg einmal zu dem Bericht erstattenden Burgtheaterdirektor, daß sie das neue Stück von Schnitzler unerlaubt ,, schwül" fände, beruhigte sich aber, als ihr der Thronfolger bedeutete, daß es ,, Kassa" mache. Ein andermal deutete sie mit der Lorgnette auf einen ganz unten stehenden Namen des überlangen Theater­zettels des ,, Jungen Medardus" und fragte inquisitorisch: ,, Ist der Herr Fiala eigentlich ein Jud?" Nein, Hoheit, der Herr Fiala ist kein Jud", war die aufrechte Antwort des Befragten. Pause; und dann, nach einer Weile, der Thronfolger: ,, Er wird doch ein Jud sein." Ein neuer Ton im Burgtheater.

Daß Franz Ferdinand bei Premieren erschien, mag in meinen selbstischen Erinnerungen unbescheiden schon darum Erwäh­nung finden, weil es mich als eine persönliche Erfahrung mit Kassandra wieder in Verbindung bringt. Denn es war bei einer solchen Premiere meines ersten im Burgtheater aufgeführten Lustspiels, daß ich infolge des Erscheinens des Thronfolgers etwas von unserer Politik erfuhr, die dem österreichischen Staatsbürger für gewöhnlich ein sich erst hinterher entschlei­erndes Geheimnis blieb.

Es war Ende März 1909, inmitten der von Aehrenthal ent­fesselten Annexionskrise.

Österreich , das einige Jahrhunderte lang die Vormacht in Zentraleuropa gewesen war, hatte 1866 diese Stellung geräumt. Seither hatte es die Wahl gehabt, ein kleines Europa für sich