WER HORT AUF KASSANDRA?
121
-
-
Genies sind Diktatoren; was bei Max Reinhardt so weit ging, daß man diesen letzten Verwirklicher des europäischen Barocktheaters mit allen seinen bezaubernden Möglichkeiten geradezu als einen Vorläufer der Diktatorenepoche im Bereich der Sprechbühne bezeichnen kann. Der Fall liegt ähnlich wie bei Richard Wagner , der mit seiner falschen Nibelungentreue ein Vorläufer des neudeutschen Nationalismus wurde ein im Grunde unschuldiger auch er. Auch Reinhardt sündigte- und wie herrlich sündigte er! in Unschuld. Er war kein Schauspieler und kein Dichter; aber indem er selbstherrlich verschmähte, das eine oder das andere zu sein, wurde er mehr, als beide zusammen jemals sein können: ein Fürst des Theaters. Ein Freund der Schauspieler, war er kein Freund der Dichter im Grunde, oder wenn er es war, höchstens der längst verstorbenen oder ausländischen, ein reaktionärer Zug in seinem Wesen, der seine österreichische Abstammung beglaubigt. Selbst Shakespeare bildete in diesem Betracht keine Ausnahme, den er ebenso wie Goethe- und nicht nur den Goethe des ,, Faust ", auch des„ Clavigo "- in bis dahin unerhörter Weise auf der deutschen Bühne verwirklichte. Überhaupt kann man nicht behaupten, daß Reinhardt, indem er Epoche machte, dem Theater diente, eher, daß er sich in höherem Maß als irgendeiner seiner Vorgänger aller seiner Möglichkeiten stolz bediente. Es war etwas Habsburgisches in seinem souveränen Egoismus, und schon darum ist es unerlaubt, ihn als einen ,, deutschen Künstler" anzusprechen, wie dies in New York bei seinem Ableben leider geschehen ist. Wir müssen seinen barocken Souveränitätsbegriff schon für uns behalten und verantworten. Zum Glück läßt er sich verantworten. Reinhardt bediente sich etwa eines Stückes von Shakespeare , um seine eigene Persönlichkeit dichterisch darzustellen. Er nahm einen Dichter in die Hand wie ein Dichter eine Feder: um sich auszudrücken. Und er benützte seine Schauspieler, wie immer sie heißen mochten, zu dem gleichen


