WER HORT AUF KASSANDRA?

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kein Zufall, denn die in puritanischen Ländern so gegensätz­lichen Begriffe Kirche und Theater gingen in Wien nicht un­gern ineinander über, und der prachtliebende österreichische Katholizismus erleichtert diesen Übergang. Und warum auch nicht? Aus dem Gottesdienst entsprungen, hat das große Thea­ter diesen Ursprung nie verleugnet. Das Wiener Burgtheater war ein großes Theater, dessen Mitglied zu sein eine mora­lische Verpflichtung in sich schloß- auch für den Zuschauer. Feiertäglich gekleidet fand er sich ein, um, andächtig gestimmt, bei Schiller zu beten und bei Ibsen zu beichten. Aber natürlich wurde nicht an jedem beliebigen Abend gebetet und gebeichtet. Es gab auch unverbindlich vergnügte Abende, an denen nur gelacht wurde. War doch dies nebenbei das Burgtheater auch das beste Lustspieltheater deutscher Zunge: das beste, weil das feinste. Das Lustspiel ist nun einmal eine wohlerzogene Gattung.

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dies eine sei dem alten Elefanten zu

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Das Burgtheater war ein Sinnbild des alten österrei­trompeten noch erlaubt chischen Herrschaftsstaates, und auch dies verriet sich schon in seiner Innenarchitektur. Vier Stockwerke Logen. In den Parterrelogen saß der Adel, im ersten Rang ererbter Reichtum, im zweiten der Parvenu, im dritten und vierten die Blüte der Nation, bis zu den Stehplätzen der Studenten hinauf. Aber noch weniger als der brotlose Student hatte der Offizier zu bezahlen, der für einen Nickel( in amerikanischer Währung) im soge­nannten ,, Stehparterre" zugelassen war: ein soziales Zuge­ständnis, das die Anziehungskraft des Militarismus bedenklich erhöhte. Aber bei alldem war keine stockige Luft in diesem klassenbewußten Übereinander, das die Kaiserloge krönte. Die Ventilation auch im metaphorischen Sinne war die aller­beste, die Luft im Zuschauerraum von köstlicher Reinheit. Im Frühjahr duftete sie sogar nach Flieder; die im benachbarten Volksgarten mündenden Luftschächte brachten den Duft her­

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