WER HORT AUFKASSANDRA? 113
erbe Franz Ferdinand , ein robuster Mann an die Fünfzig, leb- ten in einem stadtbekannt schlechten und durch die morga- natische Ehe des Thronerben noch mehr verbitterten Verhältnis. Der Anwärter hauste im oberen Belvedere, der Uralte am anderen Ende der Stadt, im kaiserlichen Lustschloß Schönbrunn . Aber das ist nur Geschichte, und was die Wiener daran erfreute, ist das folgende Geschichtchen. Ein kostbarer Papagei sitzt auf einem Baum im Wiener Stadtpark, wo er sicher nicht zu Hause ist. Die Polizei holt ihn mit Hilfe einer Feuerleiter von seinem hohen Sitz herunter und bringt den schönen Vogel auf die Wachstube. Wem gehört er? Der Papagei verweigert die Aus- kunft. Aber nachdem er zwei Tage lang verstimmt geschwiegen hat, beginnt er am dritten Tag mit dem Kopf zu rücken und Laute von sich zu geben, die sich am Ende zu der verständ- lichen Äußerung verdichten:„Hundert Jahr wird er leben. Hundert Jahr wird er...“ Man schickt ihn sofort ins Belvedere zurück, wo der Thronfolger seine Residenz aufgeschlagen hat.
Das ist Wien , und wer über den Geist und Ungeist dieses Stadtwesens mehr zu erfahren wünschte, der brauchte nur das damals neu erschienene und sofort verbotene Buch„Wien “ des Linzers Hermann Bahr aufzuschlagen. Der Wiener , sagt Bahr, ist gar nicht, er scheint nur zu sein. Eine Definition wie eine andere, die Bahr auf ebenso gelehrten wie amüsanten Um- wegen von der Barocke, dem theatralischen Stil der Gegen- reformation, ableitet. Dieser auf„glauben machen“— making believe— berechnete Stil betrachtet die Wirklichkeit nur als einen dekorativen Vorwand für eine höhere Unwirklichkeit, die es durch eine vorgetäuschte Scheinhaftigkeit zu beweisen gilt. Er überwölbt das Kirchenschiff mit einem gemalten Himmel und begrenzt die Unendlichkeit mit einem bebänderten Stukko- Vorhang, hinter dem beflügelte Engelsköpfchen neugierig her- vorgucken. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie einander dabei sogar Witze erzählen.
8 Verlorene Zeit


