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ERLEBTES OSTERREICH

Bahr, dem ich erst später persönlich begegnete, als er sich in einen Barockheiligen zwischen Christophorus und Tolstoi zu verwandeln begann, verhielt sich zur neubarocken Wiener Dichterschule ungefähr wie Johannes der Täufer zum Christen­tum. Er hatte sie vorgeahnt und erklärte sie nachher, ohne auf seine geistige Priorität zu pochen. Selbst mehr Journalist als Dichter, war er aber doch ein wahrer Lustspieldichter, einer der ganz wenigen, die das deutsche Schrifttum hervorbrachte. Denn Deutschland ist ein ernsthaftes Land, in dem das Lächeln als eine unmännliche Schwäche gilt, und das Lustspiel ist und bleibt eine Form, die sozusagen lächelnd ernst genommen sein will. Das war Bahrs Fall, der sich selbst nicht allzu bescheiden den österreichischen Shaw nannte. Shaw oder nicht Shaw, er war schließlich doch ein Österreicher, und die katholische Barocke löste die verwegene Sinnlichkeit seiner revolutionären Jugend bald ins Übersinnliche auf, dem er sich immer passionierter verschrieb. Er wurde kirchenfromm und am Ende seiner Tage so sehr Österreicher, daß er es in Österreich nicht mehr aushielt, weil es ihn zu sehr an ihn selbst erinnerte. In jenen Jahren, kurz vor dem ersten Weltkrieg, wandte er Wien den Rücken und ging nach Berlin , um dort, im Umkreis Max Reinhardts, sein heiterstes und technisch gelungenstes Stück ,, Das Konzert" bei Reinhardts Antipoden Otto Brahm zur Aufführung zu brin­gen. Wäre er in Wien geblieben in jenen schicksalträchtigen Jahren, als sich die unterdrückt homerischen Kämpfe zwischen der österreichischen Kriegspartei und dem friedfertigen alten Kaiser abspielten, so wäre er einer der wenigen gewesen, die auf Kassandras Stimme gehört hätten. Als ihn zehn Jahre später, kurz vor dem Zusammenbruch der Monarchie, Kaiser Karl zum heimlichen Direktor des Burgtheaters öffentlich ernannte, war es zu allem zu spät. Der gemalte Barockhimmel stürzte über ihm zusammen und alles, was er für das Burgtheater noch tun konnte, war ein reizendes Buch über das Burgtheater schreiben.