Waren dies Charakterbeispiele, so waren es zugleich in Wien nicht einmal gern gesehene Charakterausnahmen. Im allge- meinen lebte die Wiener Gesellschaft, die regierende wie die regierte, in jenen Jahren vor der Sintflut ihr den Schönheiten und Freuden des Daseins emsig zugewandtes Leben nicht gerade gewissenlos, aber mit einem von Weinlaune leicht ein- geschläferten Gewissen. Schönheit war alles und Politik herz- lich wenig. Ein Caruso-Gastspiel beispielsweise verschleierte das traurige Verhältnis zu Italien , ein Auftreten Nijinskis im Rahmen des russischen Balletts die Mobilisierung einiger Armee- korps an der russischen Grenze. Der erstaunliche Luftsprung des weltberühmten Tänzers hatte eine größere Bedeutung als die Annexion Bosniens , die dem nun achtzigjährigen Kaiser eine letzte Freude machte— und die im späteren Verlauf zum Weltkrieg führte; denn aus ihr entstand der Balkankrieg und aus diesem, zwei Jahre später, der Waffengang mit der Entente. Aber das lag„auf den Knien der Götter“, die in unserem Falle ein Grüppchen österreichischer Tories waren, die einander gegenseitig das Portefeuille des Außenministers zuschoben; lauter kleine Metterniche, ohne dessen große Begabung. Der beste unter ihnen war der schlimmste, Baron, später Graf Aehrental, der Mann der Annexion. Während er auf seine Art Weltgeschichte machte oder vorbereitete, machten die Wiener Witze, die sich zum Weitererzählen eigneten. Nijinskis langer Sprung aus dem Kelch der Rose durch ein offenstehendes Gartenfenster verschaffte dem Künstler eine Einladung zum Mittagessen beim Baron Rothschild. „Wie lange bleiben Sie in der Luft?“ wollte der neugierige Baron von seinem berühmten Gast wissen.„Solang als nötig“(Autant qu’il faut“) war die entschlossene Antwort des Tänzers. Darüber lachten die Wiener und sie lachten Tränen über ein anderes Geschichtchen, das auf eine vergnügliche Weise ins Gebiet der großen Politik hinüber- führte. Der zähe alte Kaiser, über Achtzig jetzt, und der'Thron-


