WER HORT AUF KASSANDRA? 111

alter Mann mit blaurotem Bulldoggengesicht, der trotz seiner sechzig und mehr Jahre Nacht für Nacht seinen verantwortungs- vollen Dienst in der Zeitungsdruckerei mit vorbildlicher Ge- wissenhaftigkeit versah. Die zusammengerückten Brauen und unter den Barthaaren gefährlich aufblitzenden Zähne verliehen dem überhängenden kurzhalsigen Kopf zuweilen den Ausdruck eines bösen Kettenhundes. Sein Auge, wenn er vor dem an ihn Herantretenden an seinem Setzkasten ärgerlich zur Seite trat, blickte klein und böse. Doch milderte sich die Strenge seiner Züge, wenn das Anliegen, das man im Maschinenlärm vor- brachte, sachlich begründet war. Ohne ein Wort zu verlieren, gewährte er dann die Wohltat eines zweiten Korrekturabzugs. Erst nach Jahren erfuhr ich, wer der Mann war, dem ich meine Achtung nicht versagen konnte. Seine einzige Tochter, Paula Mark, war eine der berühmtesten Sängerinnen der Wiener Hofoper, sein Schwiegersohn der wahrscheinlich angesehenste und bedeutendste Arzt der Monarchie. Dennoch ließ der alte Mann seinen Setzkasten nicht im Stich und lebte nach wie vor vom Arbeitslohn, sehr zum Verdruß seiner Tochter, die liebend an ihm hing und gern für ihn gesorgt hätte. Ja, es gab auch Charaktere in unserem alten, so vielfach verleumdeten Öster- reich, und es gab deren auch in den sogenannten höheren Stän- den, die mitunter auch nicht tiefer standen und ihren Stand behaupteten. Der Bruder eines kaiserlichen Ministerpräsidenten legte seine Aufsichtsratstelle in einem großen Industrieunter- nehmen an dem Tage zurück, an dem er im Amtsblatt die ver- lautbarte Ernennung seines Bruders zum österreichischen Pre- mier las. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, daß die Ent- scheidungen der kaiserlichen Regierung seinem Unternehmen zustatten kämen. Es gab Leute, die eine so weitgehende Hypo- chondrie der Anständigkeit für Narrheit erklärten. Aber gerade diese Narrheit adelte den Fall. Der- Name des Cato im Auf- sichtsrat war Gautsch.

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