WER HORT AUF KASSANDRA?

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Wir schauen voll Vertrauen

Ins deutsche Vaterland.

Ein geistreicher Pariser Schriftsteller hat eine kriegslustige Kammerrede des französischen Nationalisten Deroulède eine ,, Fanfare in roten Hosen" genannt. Dieses Lied war eine Fan­fare in blauen Augen; der treudeutsche Blick, nach erweitertem ,, Lebensraum" hungrig, schielte merkbar über die Grenze. Aber niemand merkte etwas. Niemand hörte auf Kassandra , die man des Klerikalismus verdächtigte, wenn sie schüchtern darauf auf­merksam machen wollte, daß die von den Deutschnationalen entfachte ,, Los- von- Rom- Bewegung " es sichtlich darauf anlegte, aus dem katholischen Österreich , dem klassischen Lande der Gegenreformation, eine deutsch - protestantische Provinz zu machen. Was drei Jahrzehnte später Hitler tatsächlich gelang. Nicht eben zum Besten Europas , und nicht einmal Deutschlands , wie eine wieder zur Vernunft gekommene deutsche Geschichts­schreibung wird zugeben müssen.

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Über diese Wiener Vorkriegsjahre, Jahre satter Bildung und eines nicht nur in Österreich selbstischen Behagens, wäre weit weniger zu sagen, bildeten sie nicht den Nährboden, in dem die Keime späterer Entwicklungen lagen. Der Weltkrieg I war kein Zufall, noch das, was nachher kam, einschließlich des zweiten Weltkrieges, den ich noch erleben durfte. Ich blicke über ein von einem Doppelerdbeben verwüstetes Gebiet zurück auf eine vormals blühende europäische Landschaft.

Zur selben Zeit ungefähr wie die deutschnationale entsprang dem österreichischen Boden, etwas verspätet, wie alles in Öster­ reich , eine andere Volksbewegung, die auf Verbrüderung der Nationen zielte, wie jene andere entgegengesetzte auf einen Krieg aller gegen alle.