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ERLEBTES OSTERREICH

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innen bedrohte, übersehen oder auch nur vernachlässigt hätte. Er hatte weit mehr Verständnis für die nationalen Aspirationen, als seine Biographen ihm im allgemeinen zugestehen. Er sprach wie jeder Habsburger mehrere Sprachen, auch Landessprachen, und war im Grunde der ererbten Meinung, daß, von oben ge­sehen, alle Nationen das gleiche Recht hätten, den Mund zu halten. Aber diese autokratische Toleranz ließ ihm seine neuestens konstitutionelle Regierung nicht mehr angehen. Die Ungarn machten in nationalen ,, Belangen" eine deutsch­nationale Wortprägung was sie wollten, und daß er sich mit den Tschechen vertrug, erlaubten ihm die vom Abgeordneten Wolf aufgepfefferten Deutschen nicht. Zuerst versuchte er es durch den Ministerpräsidenten Taaffe , der, irischer Abstam­mung, für Home Rule ein gewisses Verständnis hatte, mit den Tschechen sich durch neue Sprachenverordnungen zu verstän­digen. Dann kamen, etliche Jahre später, die Sprachenverord­nungen des Ministers Badeni , die in meinen Studententagen fast eine Revolution des, deutschen Wien " zur Folge hatten. Taaffe mußte nach dreizehn Jahren zurücktreten und Badeni , auch er ein Graf, sofort verschwinden. Aber damit war es nun nicht mehr getan; es wurde weiter geschürt und gehetzt, gestichelt und gedroht. Allen, die einen vernünftigen Föderalis­mus vertraten, die einzige Rettung für das unrettbare Öster­ reich , antwortete die ,, Wacht am Rhein", das Leiblied der deutschnationalen Studentenschaft. Aber noch ein anderes Lied, das noch unverblümter die Hoffnung der Völkischen" aus mannhaften Kehlen aufrülpsen ließ, kam damals in Schwang, von der jüdisch liberalen Wiener Presse in sanfteren Leit­artikeltönen mitgesungen oder-gebrummt. Es lautete, wahr­haft herzerhebend:

Wir schielen nicht, wir schauen, Wir schauen unverwandt,