WER HORT AUF KASSANDRA?
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lichen Flüẞchens, das die beiden Hälften der Monarchie quotenmäßig voneinander schied. Zu diesem beiderseits begreiflichen Wunsch, unter dem nur die unterdrückten Nationen und Natiönchen beiderseits litten, trat dann, ihn verstärkend, die ,, deutsche Orientierung" hinzu, die die Waffenbrüderschaft nach sich zog. Im Rückblick wird manches sonnenklar, was damals scheinbar noch in Nacht und Nebel lag. Aber es war nur eine Nacht der Ahnungslosigkeit und ein Nebel der Verlogenheit, die den zum Selbstdenken nicht erzogenen Österreicher aus Bequemlichkeit, wenn nicht aus Feigheit, übersehen ließ, was sichtbar herandrohte: die Aufsprengung des jahrhundertealten Gefüges der Monarchie durch den atmosphärischen Druck der gestauten Nationalismen. Auch der gefällige und selbstgefällige Wiener Optimismus spielte dabei eine Rolle, der in zwei Anekdoten, einer traurigen und einer heiteren, weiterlebt. Die traurige schließt an den Wiener Ringtheaterbrand an, der mehreren hundert Theaterbesuchern das Leben kostete. Ein Mitglied des kaiserlichen Hauses fand sich besorgt auf der Brandstätte ein und der diensthabende Polizeioffizier erstattete, vorschriftsmäßig salutierend, seinen Bericht mit den überlieferten Worten: ,, Alles gerettet, kaiserliche Hoheit!" Das andere Geschichtchen knüpft an den Namen des in Wien legendären Malers Schödl an, der die Wirklichkeit so schön zu übermalen liebte, wie er seine Miniaturen bepinselte. Eines Tages beim täglichen Spaziergang über den Ring begegnet er einer alten Freundin in Trauer. ,, Sie gehen ja ganz schwarz, was ist denn g'schehn?" fragt er teilnehmend. ,, Mein Mann ist ja vor einem Monat gestorben", erwidert die bekümmerte Dame, ,, eine schwere Lungenentzündung". ,, Na", tröstet sie der alte Schödl mit einer leichten Handbewegung ,,, es wird nicht so gefährlich gewesen sein!"
Dabei kann man nicht sagen, daß der alte Kaiser mit seinem dualistisch zweigeteilten Greisenbart und den zwinkernden Jägeraugen die nationale Gefahr, die das Habsburgerreich von


