WER HORT AUF KASSANDRA?

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semitismus? Man hörte etwa im Vorbeigehen ein paar Leute einem jüdischen Hausierer ,, Hepp! Hepp!" nachrufen oder las im Blättchen, daß im Gemeinderat ein Anhänger des Bürger­meisters Lueger die statistische Bemerkung habe fallen lassen, die Juden lebten, das wäre nachgewiesen, durchschnittlich ein Viertel länger als die Menschen. Oder es wurde in der Kammer über das Standrecht in Prag debattiert und ein christlichsozialer Abgeordneter schlug vor, man solle diese Schandmaßnahme für die christliche Bevölkerung sofort rückgängig machen und nur für die Juden in Prag noch eine Weile weiterbestehen lassen. Konnte ein akademisch Gebildeter solche Bemerkungen ernst nehmen? Sie wurden von einem Lachen des ,, Hohen Hauses" weggeblasen, wenn sie nicht schon von Haus aus lachhaft ge­meint waren, wie etwa die bekannte Bemerkung des allbeliebten Bürgermeisters Lueger, der dem Vorwurf, daß er selbst den Umgang mit Juden gesellschaftlich, ja sogar freundschaftlich unter Umständen nicht verschmähe, launig mit den Worten begegnete: ,, Wer ein Jud ist, bestimme ich!" Ganz Wien freute sich über die einleuchtende Einfachheit dieses Rassenachweises zu einer Zeit, als die Berliner Antisemiten bereits kehlig sangen: ,, Wes Nase krumm, wes Haare kraus der muß hinaus, der muß hinaus!"

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Mein Vater kannte seine Landsleute besser. Er strich sich besorgt den schon ergrauenden Vollbart und warnte vor dem, was kommen würde. ,, Ihr in Wien wißt ja nicht, was Anti­semitismus ist", sagte er einmal zu mir:, Die Deutschen sind Antisemiten." Und er erzählte, wie er als kleiner Junge in Nürnberg mit angesehen hätte, daß Judenkinder bei Ein­bruch der Dunkelheit mit Steinwürfen durchs Stadttor getrieben worden wären, weil Juden nicht in Nürnberg übernachten durf­ten. Das war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dreiviertel Jahrhunderte später wurden in eben diesem Nürn­ berg die bekannten Schandgesetze ausgeheckt, die den hoffent­