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wurde. Schließlich ließ mein Vater das treue Tier sein Tempo selbst bestimmen, was es denn auch in Schritt fallend alsbald tat. Er zündete sich eine Zigarre an und schlang das Leitseil um den Peitschenstiel, was nicht den geringsten Eindruck auf die alte Stute zu machen schien. Von ihrem Instinkt geführt, blieb sie stets auf der richtigen Straßenseite und schlug bei jeder Kreuzung in dem hundertfach verwickelten Straßennetz, ohne einen Wegweiser zu benötigen, nach rechts oder links abbiegend den kürzesten Weg nach Hause ein. Allerdings war der noch idyllische Wagenverkehr unseres damaligen Wien weder von Autos noch von Motorrädern beunruhigt und eine siebenjährige Ortskenntnis kam dem Pferdchen zustatten. Immerhin konnte ich seinen Verstand nur bewundern, als es, bei der letzten Wendung in einen beschaulichen Trab übergehend, ruckartig vor dem Gartentor unseres Hauses stehenblieb. Ein Stück Zucker, das ich ihm im Auftrag meines Vaters reichen durfte, war seine und meine Belohnung.
Einen solchen Pferdeverstand bewahrte mein Erzeuger auch auf dem Felde der Politik. Er überschaute den Weg, der uns zur Katastrophe führte, viel klarer als die gelehrten Häupter, die im Parlament oder in den Zeitungen das große Wort führten. ,, Wohin soll das führen?" rief er immer wieder, wenn er abends in seinem Leibblatt von neuen Rüstungskrediten oder einer Erhöhung des Rekrutenkontingents las:„ Wie anders kann das enden als mit einem europäischen Krieg?" fragte er, anklagend über den Sitzungsbericht in eine höchst unsichere Zukunft blickend. Auch die Sturmzeichen des aufkommenden Antisemitismus wußte er richtig zu deuten, trotz seiner vorgespiegelten Ungefährlichkeit, mit der sich viele beruhigten. Besonders die begüterten Juden, die man im Wiener Sprachgebrauch die Nobeljuden nannte, konnten sich nicht entschließen, eine Bewegung ernst zu nehmen, die sich so offenkundig in Bübereien erschöpfte. Was war denn dieser ganze Wiener Anti


