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ERLEBTES OSTERREICH

Was ich in dieser Wiener Schule, über die man so leicht­sinnige Urteile zu hören bekam, letzlich lernte, war nicht nur, meine Worte behutsamer wählen und vorsichtiger aneinander­reihen, sondern vor allem, der Literatur den ihr zukommenden Rang einräumen und sie teilhaben lassen am ,, Gewissen der Zeit". Ich wurde aus einem etwas einseitigen Novellisten ein Erzähler mit etwas größerer Spannweite und aus einem etwas affektierten Feuilletonisten ein sich um Verständnis bemühen­der Essayist. Und ich wurde vor allem, was ich im Keim freilich immer schon gewesen war: ein überzeugter Leser. Daß Lesen zum Handwerk und erst recht zur Kunst des Schriftstellers ge­hört, erscheint mir noch heute ein Axiom, an dessen Gültigkeit die Tatsache nichts ändern konnte, daß das nachrückende Lite­ratengeschlecht unwissend den, Humanismus verwirft und vom Lesen nichts wissen will. Es kocht im eigenen Saft und schmeckt auch mitunter danach.

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Von den vier Meistern, von denen ich hier andeutungsweise sprach und hinter denen andere Köpfe und Schultern ins Rund­gemälde des Zeitalters ragen, kam jeder aus einem anderen Beruf, und dieser ihr früherer Beruf bleibt in ihren späteren Werken nachweisbar. Schnitzlers bedeutendstes Stück ,, Professor Bernhardi" ist ein Ärztestück: der dialektische Kampf zwischen Arzt und Priester am Krankenbett eines im Spital sterbenden jungen Mädchens. Beer- Hofmann hatte Jus studiert und die Bibel. Von König David nicht zu reden, ist seine bedeutendste Gestalt der hohe Richter im ,, Grafen von Charolais". Hof­ mannsthal war romanischer Philologe. Wie Grillparzer hatte er die großen spanischen Dichter studiert und als ein großer Herr der Literatur, der er war, später selbstherrlich erneuert. Alle drei entstammten einem wohlhabend gewordenen Bürger­tum. Wassermann, der keine Universitätsjahre hinter sich hatte und aus einem kleinen Fabrikkontor seinen Weg in die hohe Literatur gefunden hatte, entstammte den tiefsten Tiefen einer