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ERLEBTES ÖSTERREICH

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Form. Schon seine Benennung war ausländisch, was bei den Puristen immer wieder unfreundlichen Anstoß erregte. Feuille­ton was hieß das eigentlich? Nicht genau, was es in Frank­ reich hieß, denn dort versteht man unter Feuilleton den blatt­weise erscheinenden Zeitungsroman; und was in Wien , nur in Wien , Feuilleton genannt oder gescholten wurde, hieß in der Pariser Zeitungssprache ,, entrefilet" und in Amerika , column", der Feuilletonist ist hier ein Columnist, der sich als solcher aller­dings meistens auf die Politik beschränkt. Immerhin, Feuilleton war ein Fremdwort und mußte aus dem Französischen erst über­setzt werden. Die einen glaubten die Sache besser zu machen, wenn sie es auf Englisch ,, essay ", auf Deutsch ,, Versuch", nann­ten, die anderen übertrugen das windige Wort noch windiger mit ,, Blättchen. Beides ist unzutreffend. Der Essay ist kein Ver­such und das Feuilleton kein Blättchen, sondern eine literarische Spielart wie eine andere. Eine Literatur im kleinen, hatte es in Wien auch eine Art verkleinerter Literaturgeschichte, die die große spielerisch abwandelte. Speidel, der weitaus größte und deutscheste unter den Meistern des Wiener Feuilletons, war ihr Goethe, Herzl, zumal in seinen Reisebildern, ihr Heine, und diejenigen unter den Wiener Feuilletonkünstlern, die über das Theater schrieben, vermaßen sich ausnahmslos, Lessinge zu sein. Wir besaßen davon mindestens ein halbes Dutzend in Wien .

Speidel, als er siebzig wurde und ein halbes Jahrhundert lang seine kleinen Meisterwerke produziert hatte, definierte das Feuil­leton, etwas widerwillig, als die ,, Unsterblichkeit eines Tages". Das war es, und eine Bildungsbrücke war es auch: eine litera­risch- gesellschaftliche Form, die es einem noch lebenden Schrift­steller sogar in Wien ermöglichte, zur Gegenwart zu sprechen.

Dies bestimmte mich, von meinem dreißigsten Jahr angefan­gen, ziemlich regelmäßig Feuilletons für die ,, Neue Freie Presse" zu schreiben. Ich konnte mich über Mangel an Erfolg auf dem