IN UND AUS DER WIENER GESELLSCHAFT

85

darauf gefaßt war, einen anderen Besucher bei seiner Freundin anzutreffen. Der Mann war buchstäblich sprachlos, als mein Name genannt wurde. ,, Raoul Auernheimer ?" brachte er mit einem erstaunten Lächeln mühsam genug hervor: ,, Der was-?" und er malte große Buchstaben in die Luft, zu scheu, das Wort ,, schreiben auch nur auszusprechen. Ein andermal, bei einem offiziellen Empfang, kam meine Frau auf mich zu und erklärte, sie müsse mich jetzt der Prinzessin Soundso vorstellen, die wiederholt nach mir gefragt hätte. Ich wurde vorgestellt, ver­neigte mich, und die hochgestellte Dame eröffnete das Gespräch huldvoll mit den Worten: ,, Nachdem ich Ihre Frau kenne, hat es mich auch recht interessiert, Ihre Bekanntschaft zu machen." Das österreichische ,, Nachdem", das aus dem Temporale ein Kausalwort macht, ist in diesem Kernsatz ebenso charakteristisch wie das vorsichtig zurückhaltende ,, recht", das das Interesse an der Bekanntschaft in gottgewollte Grenzen wies.

Aber es gab auch Damen in diesen Kreisen, die sich über die Literaturfremdheit dieser Kreise lustig machten und die, auch wenn sie nicht, wie Marie Ebner- Eschenbach , die Jane Austen des österreichischen Hochadels, eine Gräfin und Dichterin in einem waren, Witz genug besaßen, ihr vernichtendes Urteil in eine literarisch anziehende Form zu bringen. Eine von ihnen, die selbst einen hohen Rang im Gotha einnahm, sagte einmal mit todernstem Gesicht von einer ihr persönlich nicht allzu nahe­stehenden Blutsverwandten: ,, Meine Kusine? Aber ich bitte Sie! Die ist ja verrückt. Die liest!"

-

Diese soziologische Abschweifung hätte wenig Berechtigung in einer Selbstbiographie auch in einer, die mehr den Hinter­grund als das Selbst ins Auge faßt-, läge nicht ihre praktische Schlußfolgerung auf der Hand. Die praktische Nutzanwendung ist, daß es in Österreich bis zur Jahrhundertwende den Berufs­schriftsteller eigentlich nicht gab, noch unter den gegebenen Vor­aussetzungen geben konnte. Es gab nur Journalisten, die von