84
Höflinge milde lächelnd beteuerten, zu„, so etwas" keine Zeit. Aber wieder war es seine Frau, die Kaiserin Elisabeth, die etwas für Literatur übrig hatte, wenn es auch mehr ein Hobby war als ein Verhältnis, das sie mit ihr verband. Ausgeschlossen war allerdings und blieb der noch lebend im Lichte wandelnde zeitgenössische Dichter, und in dieser Hinsicht kann man dem Wiener Hof den Vorwurf einer grundsätzlich reaktionären Einstellung kaum ersparen. Der französische Dichter Alfred de Musset klagt einmal darüber, daß er, am Hofe Napoleons III. eingeladen, einen neuen Einakter vorzulesen, die ihn beschämende Erfahrung machen mußte, daß die Kaiserin während der Vorlesung einschlief. Das war gewiß betrüblich, und es läßt sich verstehen, daß der empfindliche Dichter mit Tränen in den Augen seiner Haushälterin davon sprach. Aber dem österreichischen Dichter mochte selbst noch diese Beschämung beneidenswert erscheinen: denn es war ganz ausgeschlossen, daß etwa Hofmannsthal , der hoffähigste aller österreichischen Dichter, der in jungen Jahren eine Art Musset war, jemals eingeladen worden wäre, bei Hofe in Gegenwart der Kaiserin ein neues Stück vorzulesen, auf die Gefahr, daß ihre Majestät dabei einschlief. Es war unvorstellbar.
Dieses allergische Verhalten der österreichischen Gesellschaft zum geistigen Nährstoff zeitgenössischer Literatur hatte mitunter die heitersten Folgen, wenn der Schriftsteller, obwohl grundsätzlich nicht vorhanden, irgendwo lebend in Erscheinung trat. Er wirkte dann unweigerlich immer entweder wie ein Zitat oder wie ein Druckfehler, das war die Wahl, die er hatte; im ersten Falle war es langweilig für ihn, im zweiten ärgerlich für die anderen. Ich erinnere mich, daß ich einmal zum Tee bei der Frau eines Botschafters, die mich für die schriftstellerischen Bemühungen einer nahen Verwandten zu erwärmen wünschte, einem unvermutet eintretenden, ebenso schönen wie eleganten österreichischen Grafen vorgestellt wurde, der offenbar nicht


