IN UND AUS DER WIENER GESELLSCHAFT

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zuweilen verhungerte. Trotzdem ist das Verdienst der Wiener Gesellschaft um die österreichische Musik unermeßlich, von Beet­ hoven an, der ihr vergötterter Liebling blieb, obwohl er ein Revolutionär war. Allerdings ist es das schöne Vorrecht der Tonsprache, daß sie alles sagen kann, ohne den Nachweis fürch­ten zu müssen, etwas gesagt zu haben; eine Möglichkeit, die sie besonders einer rückständigen Gesellschaft empfahl. Hätte Beet­ hoven in Lettern drucken lassen, was er in Tönen zum Ausdruck brachte, so hätte die Wiener aristokratische Gesellschaft nicht den Lobkowitz - Palast für sein Konzert aufgesperrt, sondern ihn selbst auf dem Spielberg, dem Dachau des Vormärz , eingesperrt.

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Es läge nahe, diesen eigentümlichen Zustand einer kunst­freudigen, aber den Schriftsteller in seiner Gegenwartsform grundsätzlich ignorierenden Gesellschaft mit dem Kaiserhaus in Verbindung zu bringen; aber es wäre ungerecht. Die großen Habsburger lasen. Maria Theresia schreibt einmal an ihre Toch­ter Marie Antoinette nach Paris : ,, Du mußt lesen; denn nur aus Büchern erfährst du, was dir deine Höflinge verschweigen: die Wahrheit." Ihr Sohn, Kaiser Joseph , las nicht nur, er las sogar zu viel ein liebenswürdiger Fehler, den sein Nachfolger, Kaiser Franz , durch Übertreibung des Gegenteils mehr als wett­machte. Von ihm stammt das berühmte Wort: ,, Ich mag's nicht, wenn meine Beamten dichten", das auf einen gewissen Grill­parzer zielte. Mit ihm beginnt die amusische Richtung im Kaiser­haus, die aber wenigstens die Frauen der Kaiser nicht immer mitmachten. Maria Ludovika , die dritte Frau des Kaisers Franz, war eine Freundin Goethes, mit dem sie in Karlsbad spazieren­ging, und Franzens vierte ermöglichte die Aufführung des von der Zensur verbotenen ,, Ottokar" von Grillparzer , weil sie Zahnschmerzen hatte und nach einer anregenden Lektüre ver­langte, als welche sich der zurückgewiesene Ottokar herausstellte. Kaiser Franz Joseph las in seinen achtundsechzig Regierungs. jahren nur Zeitungsausschnitte, nie ein Buch, er hatte, wie seine