82 ERLEBTES OSTERREICH

Wiener Gesellschaft, entwaffnete jeden aufstrebenden Novel- listen, auch wenn er schon etwas geleistet hatte, mit der Frage: Kennen Sie die ‚Venus dIlle von Merimee? Das ist eine Novelle! Das müssen Sie lesen! Womit sie vollkommen recht hatte; ihr kategorisches Urteil bekundete den besten Geschmack. Was freilich nicht ausschloß, daß auch derArme Spielmann von Grillparzer oderKrambambuli von Marie Ebner-Eschen- bach eine Novelle war, dieeine Novelle war und die man gelesen haben sollte.

Immerhin, die Fürstin Metternich mit ihren kohlschwarzen Komikerbrauen, den Feueraugen und dem ebenso feurigen Mulattenmund, der feurig geistreiche Worte abblitzte, war eine große Dame, eine Prinzessin Mathilde der Wiener Sozietät. Mehr als das, sie hatte in ihrer Jugend, als Botschafterin, die Erstaufführung desTannhäuser in Paris ermöglicht und bei dieser denkwürdigen Gelegenheit vor Ärger über das Verhalten des Pariser Publikums einen historischen Fächer zerbrochen. Und die bildhübsche Gräfin Mysa Wydenbruc-Esterhazy, die aus- sah wie die Belle Chocolatiere des Liotard das Urbild der Wienerin, deren neugierige Stielbrille im Theater unermüd- lich nach Grüßen und Bekannten fischte und die in jedem Phil- harmonisches Konzert, wenn Bruno Walter dirigierte, mindestens ein Paar neuer weißer Glac&handschuhe zerklatschte, war, um dreißig Jahre jünger als die Fürstin Metternich , eine ebenso temperamentvolle Vorkämpferin Gustav Mahlers. Sie war auch nicht literaturblind, und ihre von Natur kurzsichtigen Augen hinderten sie nicht, auch auf diesem Gebiet, der Gegenwart zu- gewandt, nach Freunden und Bekannten Ausschau zu halten. Aber daß auch für sie die Musik zuerst kam, unterliegt keinem Zweifel. Es war nun einmal so, daß in Wien der Musiker gesell- schaftlich den Rang einnahm, der in Paris dem Schriftsteller vorbehalten blieb. Der Tondichter zumindest wohnte in Oster- reich nichtunter der Stiege, wenn er auch, wie Hugo Wolf ,