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der Ilias oder Äneide, wenn es darauf ankam, aus dem Gedächtnis in der Ursprache frei hersagen und lasen zu ihrer Erholung etwa die Fragmente des Menander. Aber sie wären höchst erstaunt gewesen, von einem Klubgenossen zu erfahren, daß der damals abwechselnd in Paris und in Rußland lebende Rainer Maria Rilke so etwas wie ein Mozart der deutschen Lyrik sei, was erst ein Vierteljahrhundert später dank den jahrzehntelangen Bemühungen der schöngeistigen Fürstin Thurn und Taxis in ihren Kreisen durchzusickern begann. Selbstverständlich war Rilke um diese Zeit schon lange tot, das war ja die Voraussetzung des dichterischen Ruhmes, der in österreichischen Regierungskreisen und in der sich selbst immer ein Nachruhm war. maßgebenden Gesellschaft Übrigens war es in den akademischen Kreisen, von vorübergehenden liberalen Anwandlungen abgesehen, kaum anders.
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Ein Dichter hatte tot zu sein; war er es nicht, stand er sich sehr im Licht. Aber sogar die bereits Verstorbenen erfreuten sich in ihrer eigenen dichterischen Vergangenheit größerer Beliebtheit als in ihrer nun auch schon längst vergangenen Gegenwart. Das scheint ein hoffnungslos verwickelter Gedankengang, der sich aber für den dialektisch geschulten gebildeten Österreicher spielend löste. Er sagte zum Beispiel von Adalbert Stifter , einem seiner späten Lieblinge: ,, Ich les' ihn gern. Also natürlich besonders seine früheren Sachen." Dabei hatte Stifter auch noch post mortem immerhin das Verdienst, ein gläubiger Anhänger des alten Herrschaftstaates gewesen zu sein. Im Jahre der Revolution, 1848, stand er auf der anderen Seite der Barrikade.
Es gab natürlich auch liebenswürdige Ausnahmen: feinsinnige, meist ältere Damen, die sich in regelmäßigen Abständen in der noch nicht lang bestehenden Grillparzer- Gesellschaft zusammenfanden, um sich dort von einem noch lebenden Dichter das ,, noch" war das Entscheidende-, dem alten


