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und— in extravaganten Fällen— das Bepinseln von Seiden- bändern mit Wasserfarben, auf die Länge nicht genügten. Das ging so weit, daß auf Betreiben der Frau Marianne Hainisch , einer tapferen und unternehmenden Vorkämpferin der neuen Zeitideen, schließlich sogar ein Mädchengymnasium in Wien gegründet wurde. Diejenigen„höheren Töchter“, die ein noch höherer Ehrgeiz antrieb, lernten jetzt Lateinisch und bald er- öffnete sich ihnen sogar der Zugang zur Universität. Was zur Folge hatte, daß sie sich berechtigt wähnten, auch sonst wie Studenten zu leben. Das heißt, sie fingen an, Zigaretten zu rauchen und fuhren mit verkürzten Röcken auf dem Zweirad ins Gelände. Das Geschlecht älterer Hofdamen bekreuzte sich.
Politisch hatte all dies gar keinen Einfluß. Die Frauen hatten weder das Wahlrecht noch das daraus hervorgehende Recht, gewählt zu werden; beides brachte ihnen erst die vorübergehende Republik . Aber selbst in den zwanziger Jahren noch blickte man einem weiblichen Nationalrat auf der Straße nach, wie man in den zehner Jahren auf der Wiener Ringstraße dem ersten Auto- mobil oder einem im Gedränge auftauchenden Neger nach- geblickt hatte. Man blieb stehen und ging lange nicht weiter.
In jenen Anfängen der österreichischen Frauenbewegung waren es zwei vorbrechende politische Richtungen, die, wenn nicht das staatsbürgerliche Gewissen, das nicht vorhanden war, so doch die Einbildungskraft der weiblichen Hälfte der öster- reichischen Bevölkerung zu beschäftigen begannen. Die im Grunde rückläufige Christlichsoziale Partei — sie war weder christlich, noch war sie sozial— gewann zahlreiche Anhänger unter den Müttern, die sozialdemokratische einige im Kreise der Töchter, zumal der erwerbenden Schichten. Diese Partei, von Viktor Adler , einem der größten und liebenswertesten politi- schen Führer Österreichs vorbildlich organisiert, versuchte in jenen Anfangsjahren des Jahrhunderts in Wien einiges von
dem nachzuholen, was man staatsbürgerliche Erziehung nennen


