72 ERLEBTES OSTERREICH

angefangen bis zum leichtfüßigen Radetzkymarsch und ätheri- schenKaiserwalzer. Die Musik ist die Unsterblichkeit Wiens , und sie war es schon bei seinen Lebzeiten, lange bevor die Nazi- pest dem schönen Traum ein Ende machte. Damals aber, im letzten Jahrzehnt des Franz-Joseph-Zeitalters, als die Wiener Volkssänger das altbewährte Leiblied der Wiener ,Verkaufts mei Gwand, i fahr in Himmel, im Weindunst einer Wohl- standsepoche heiter-pessimistisch zum besten gaben, war sie das allgemeine Glaubensbekenntnis, das, sogar in der Kirche, vielfach den Glauben ersetzte. Wien war nicht nur die Stadt der besten Wagner- und Mozart-Aufführungen in der Oper, der besten Dirigenten in den Philharmonischen Konzerten, die den Musikliebhabern einen weltlichen Gottesdienst bedeuteten, der beschwingtesten Operettenabende; es war auch das Wien des Rose-Quartetts, das später nach London flüchtete, der zahl- losen Quartette in den Wiener Bürgerstuben schlechtbezahlter Beamten, die sich einmal in der Woche wie Verschwörer zu- sammenfanden, um bei großer Musik ihre kleinlichen Sorgen zu vergessen, und es war, nicht zuletzt, auch das Wien der Militärkapellen, die auf allen öffentlichen Plätzen, in allen besseren Gartenrestaurants taktfest aufspielten. Was sie für Wien bedeutet hatten, erfuhren die Bewohner dieser Stadt erst, als sie nach dem Zusammenbruch aus dem Stadtbild verschwan- den. Daß man uns die Armee weggenommen hatte, konnte der Wiener im Gegensatz zum Deutschen leicht ertragen; den Regi- mentskapellen trauerte er noch lange nach.

Nach der Musik und neben ihr war das Theater die große Liebe und der Stolz des damaligen Wien . Das Burgtheater war einzig, und Kainz, Mahlers Gegenstück im Bereich der Sprech- bühne, der unbestritten erste deutsche Schauspieler seines Zeit- alters. Ungefähr gleich alt, regierten sie auch gleichzeitig, der eine in derBurg , der andere in der Oper, und starben beide viel zu jung und plötzlich für den Ruhm und das Glück der