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ERLEBTES OSTERREICH

Mahler war ein Genie. ,, Talent hat man, Genie ist man", lautet das geistvolle Wort eines französischen Denkers, das auf Mahler zutrifft: er war, was er hatte. Er war aber auch ein zeitgemäßes Genie, der es sich erlauben konnte, das Wort zu prägen:, Tradition ist Schlamperei." Er wollte nicht wie seine Vorgänger und halben Zeitgenossen auf dem immer mit Talent gesegneten Gebiet der Wiener Musik ein Nachfahr sein auf hohen Wogen, ein Nachklassiker wie Brahms , wie Bruckner, wie Goldmark, lauter große Meister, jeder in seiner Art. Er wollte, ebenso wie die neuen Maler und die neuen Dichter und wie es auf dem Gebiete der Musik auch der unglückliche Hugo Wolf ist, den seelischen Inhalt einer neuen Zeit mit neuen Mitteln ausdrücken. Er glaubte an Wandlung, auch in der Kunst; das war das Neue an ihm in einer Zeit, die, zumal in Österreich , allenthalben am Hergebrachten und Überkommenen festhielt. Mahler war nicht statisch, sondern dynamisch; nicht apollinisch, sondern dionysisch. Damit vollzog er den Über­gang ins neue Jahrhundert. Das Neue an ihm waren seine Nerven; eine gewisse, manchmal fast unschöne Fahrigkeit, die auch in seinem Gang und in seinem Gehaben zum Ausdruck kam. Aber bei aller Sprödigkeit des Ausdrucks und allem Ver­zicht auf gefällige Glätte war er ein großer Bildhauer des Seelischen; kein Michelangelo der Musik wie Beethoven , aber ihr Rodin.

Auf den Tummelplätzen der, leichten Muse", wie die immer noch mythologisch angehauchten Wiener Zeitungen sich ge­bildet ausdrückten, war es im Grunde nicht anders, nur nahm man den Übergang von einem zum anderen Jahrhundert hier leichter und ging mit einem Lächeln oder einem lächelnden Seufzer darüber hinweg. Johann Strauß , der viel gefeierte, nie genug gefeierte ,, Walzerkönig der Wiener , überlebte sein Jahrhundert nicht; seine Eleganz, seine Salonromantik kamen nicht wieder, noch auch seine volkstümliche Berühmtheit, die