68 ERLEBTES OSTERREICH

Bergwiesen und versteckte Weiler und ein malerisches Strom- ufer, seitdem esGroß-Wien geworden war, um sich der liberalen Mehrheit der Inneren Stadt zu entwinden. Ein schöner Mann, der diese antiliberale Politik vertrat, regierte es, der Doktor Lueger, den die Frauen als den schönen Karl anhim- melten. Der Kaiser hatte ihm zweimal die Bestätigung versagt, aber schließlich wurde er doch Bürgermeister von Wien , obwohl er und vielleicht sogar weil er ein Antisemit war. Immerhin, es war ein verhältnismäßig gemütlicher Antisemitismus, der nicht an die Grundrechte rührte und die Gleichheit vor dem Gesetz bestehen ließ. Reaktionär, wie die ganze Wirtschaft war, ging sie doch Hand in Hand mit einer äußeren Verschönerung des Stadtbildes und selbstbewußteren Finanzpolitik der Gemeinde. Die Verträge mit den ausländischen Gas- und Trambahn- gesellschaften wurden nicht erneuert, die Gasröhren aus dem Boden gerissen und dafür elektrische Kabel gelegt. Bogen- lampen flammten über der Ringstraße auf und jeder der hohen Beleuchtungsmasten trug in der schönen Jahreszeit ein Blumen- gebinde um den Hals wie eine vorgebundene Krawatte. Man erzählte uns, daß es das nur noch in Barcelona gäbe, aber wir machten uns selbständig und erklärten, weil die Krawatte auf Wienerisch die Masche heißt und auch die Wienerinnen in Mascherln immer groß waren: Wien ist eine Mascherlstadt. Und unter den Blumen und Lichtmonden und Mascherln glitten die schlankgebauten, nagelneuen Elektrischen geräuschlos dahin, mit Spiegelscheiben und polierten Sitzen, und immer nur halb voll, so daß man für den Bettel von sechs Kreuzern stundenlang spazierenfahren konnte, rauchend und plaudernd wie in einem Automobil. Das wurde eine Art von Sport unter den Wiener Millionären, die immer sparsam waren.

Und wie das Stadtbild war das Leben, ästhetisch um jeden Preis, sogar um den Preis der Gesinnung. An der Spitze der

sozialen Pyramide, die sich unter Umständen über die gott -